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Was steckt hinter den Hartz-IV-Neuregelungen?

9. SGB-II-Änderungsgesetz

  • Lesedauer: 7 Min.

Darüber informiert die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppe Berlin im A-Info vom September 2016. Ausführlichere Informationen bietet die Langfassung (18 Seiten), die auf www.erwerbslos.de abgerufen werden kann. Was besagen die neuen Hartz-IV-Regelungen?

Leistungsberechtigte und Leistungen

Auszubildende: Folgende Gruppen, die bisher nur sehr eingeschränkte Leistungen nach § 27 SGB II (nur Mehrbedarfe und ggf. einen Mietzuschuss) erhalten konnten, haben nun einen regulären Anspruch:

- Alle Auszubildenden in Berufsausbildung oder in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, sofern sie nicht beim Ausbilder oder in einem Wohnheim untergebracht sind. Sofern tatsächlich BAföG bezogen wird (oder nur aufgrund der Anrechnung von Einkommen und Vermögen nicht bezogen wird) auch:

- alle Schüler,

- Studierende, die bei den Eltern wohnen,

- Studierende in Fachschulklassen, deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt, an Abendgymnasien oder Kollegs, auch wenn sie nicht bei den Eltern wohnen (§ 7 Abs. 5 und 6 SGB II neu).

Vom BAföG ist pauschal nur noch die 100-Euro-Grundpauschale absetzbar. Bisher waren es 20 Prozent vom jeweiligen BAföG-Höchstsatz (§ 11b Absatz 2 Satz 4ff SGB II neu).

Bildungspaket: Ein Anspruch auf Leistungen für den Schulbedarf in Höhe von 70 Euro und 30 Euro besteht auch, wenn der Schulbesuch nach den Auszahlungsstichtagen 1. August und 1. Februar beginnt. (§ 28 Abs. 3 Satz 2 SGB II neu).

Vorschuss (statt Darlehen): Auf Antrag können bis zu 100 Euro des Leistungsanspruchs des Folgemonats vorab ausgezahlt werden (§ 42 Abs. 2 SGB II neu).

Nach der bisherigen Praxis können Leistungsberechtigte ein Darlehen (nach § 24 Abs. 1 SGB II) erhalten, wenn sie über kein Geld mehr verfügen, um den Lebensunterhalt im laufenden Monat zu bestreiten.

Der Nachteil der Neuregelung ist, dass der ausgezahlte Vorschuss vollständig im Folgemonat verrechnet wird.

Kosten der Unterkunft

Gesamtangemessenheitsgrenze: Die Jobcenter erhalten die Möglichkeit (Kann-Regelung), eine Gesamtobergrenze für Unterkunft und Heizung festzulegen (§ 22 Abs. 10 SGB II neu). Damit entfällt die bisher in der Regel verpflichtend vorgegebene getrennte Prüfung der Angemessenheit von Kaltmiete und Nebenkosten einerseits und Heizkosten andererseits.

Unser Tipp: Falls Jobcenter bei der Herleitung der Gesamtgrenze für die Heizkosten einen niedrigeren Wert als den Grenzwert aus dem Heizspiegel festsetzen, kann im Widerspruchsverfahren argumentiert werden, dass es laut Gesetzesbegründung (S. 40) der Wille des Gesetzgebers ist, die Werte aus den Heizspiegeln zu berücksichtigen. Es bleibt weiterhin möglich, Gründe vorzutragen, warum die tatsächlichen Heizkosten im Einzelfall als angemessen anzusehen sind, obwohl sie zu einer Überschreitung der abstrakten Gesamtobergrenze führen (Gesetzesbegründung S. 40, Erläuterung zu Satz 3).

Einkommensanrechnung

Erwerbstätigenfreibetrag bei vorläufigen Entscheidungen: Entscheidet ein Jobcenter vorläufig über einen Leistungsanspruch - etwa weil das zukünftige Einkommen schwankt -, dann darf das Jobcenter den Freibetrag für Erwerbstätige (20 Prozent von 100,01 bis 1000 Euro; 10 Prozent von 1000,01 bis 1200 Euro bzw. mit Kind 1500 Euro) - zunächst - unberücksichtigt lassen (§ 41a Abs. 2 SGB II neu)! Dies führt zu einer finanziellen Einbuße von bis zu 230 Euro monatlich.

Durch Untätigkeit und Zeitablauf wird ein vorläufiger Bescheid ein Jahr nach Ende des Bewilligungsbescheids automatisch zu einem endgültigen Bescheid.

Wichtig: Um zumindest eine nachträgliche Berücksichtigung des Freibetrags sicherzustellen, müssen Leistungsberechtigte einen Antrag auf eine abschließende Berechnung stellen (§ 41a Abs. 5 SGB II neu).

Zudem wurde der Pauschbetrag in Höhe von 15,33 Euro für allgemeine Werbungskosten in der ALG-II-Verordnung gestrichen (§ 6 Abs. 1 Nr. 6 ALG-V neu).

Nachzahlungen

Nachzahlungen, etwa eine Sozialleistung oder eine Lohnnachzahlung, werden wie ganz gewöhnliche einmalige Einnahmen behandelt (§ 11 Abs. 3 SGB II neu) und ggf. auf sechs Monate aufgeteilt.

Dies hat zwei Nachteile: Es wird verhindert, dass Teile der Nachzahlung nach der Anrechnung im Zuflussmonat zu Vermögen werden, und es wird die günstige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausgehebelt, wonach bei einer Lohnnachzahlung für mehrere Monate die Grundpauschale mehrmals, nämlich für jeden Monat, auf die sich die Zahlung bezieht, abzusetzen ist (Urteil des Bundessozialgericht vom 17. Juli 2014, Az. B 14 AS 25/13 R).

Erstattungsanspruch bei Doppelleistungen

Eine zugeflossene, vorrangige Sozialleistung eines anderen Leistungsträgers muss unter Umständen an das Jobcenter (zurück)gezahlt werden. Diese Erstattungspflicht soll immer dann gelten, wenn eine Anrechnung als Einkommen nicht mehr möglich ist, weil beim Zufluss der anderen Leistung keine Hartz-IV-Leistungen mehr bezogen werden (§ 34b SGB II neu).

Vorzeitiger Verbrauch einer einmaligen Einnahme

Nach der Rechtsprechung des BSG bestand bisher auch dann ein Rechtsanspruch auf Hartz-IV-Leistungen, wenn einem Leistungsbezieher eine einmalige Einnahme zugeflossen ist, diese aber bereits verbraucht wurde und somit anders als vom Jobcenter berechnet, nicht mehr für den Lebensunterhalt zur Verfügung steht. Dieser Rechtsanspruch wurde gestrichen und durch ein Darlehen ersetzt, das in den Folgemonaten vom Regelsatz abgestottert werden muss (§ 24 Abs. 4 SGB II neu). Diese Änderung tritt erst zum 1. Januar 2017 in Kraft.

Pflichten und Strafen, weniger Rechte

Verschärfte Mitwirkungspflichten bei vorrangigen Leistungen: Wird eine gegenüber dem SGB II vorrangige Leistung von dem dafür zuständigen Leistungsträger wegen fehlender Mitwirkung des Berechtigten bestandskräftig entzogen oder versagt, dann werden die SGB-II-Leistungen für den Lebensunterhalt so lange ganz oder teilweise entzogen, bis die Mitwirkungspflichten erfüllt werden (§ 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II neu).

Diese Verschärfung gilt nicht bei der Zwangsverrentung. Auf diesen drohenden Leistungsentzug muss zuvor schriftlich hingewiesen werden (§ 5 Abs. 3 Satz 4 SGB II neu).

Werden die Mitwirkungspflichten nachgeholt, dann sind die SGB-II-Leistungen rückwirkend nachzuzahlen (§ 5 Abs. 3 Satz 5 SGB II neu).

Sozialwidriges Verhalten: Bisher mussten SGB-II-Leistungen an das Jobcenter zurückgezahlt werden, wenn die Hilfebedürftigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt wurde. Bestraft wurde somit bisher ein »Fehlverhalten«, das vor dem Leistungsbezug lag. Künftig besteht eine Rückzahlungspflicht auch bei einem »Fehlverhalten« im laufenden Leistungsbezug, und zwar dann, wenn die Hilfebedürftigkeit ohne wichtigen Grund »erhöht, aufrecht erhalten oder nicht verringert« wird (§ 34 Abs. 1 SGB II neu).

Unser Tipp: Laut BSG ist sozialwidriges Verhalten auf »eng zu fassende Ausnahmefälle« zu begrenzen. Der Grundsatz, dass existenzsichernde Leistungen »unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit« zu gewähren sind, darf nicht durch weitreichende Rückzahlungspflichten konterkariert werden (BSG-Urteil vom 16. April 2013, Az. B 14 AS 55/12 R).

Begrenzung Überprüfungsanträge: Der Zeitraum, für den das Jobcenter zu Unrecht vorenthaltene Leistungen für die Vergangenheit nachzahlen muss, wird verkürzt. Ein Anspruch auf Nachzahlung besteht nun erst ab dem Tag einer höchstrichterlichen Entscheidung zu Gunsten von Hartz-IV-Leistungsbeziehern (§ 40 Abs. 3 Nr. 2 SGB II neu). Diese zeitliche Begrenzung betrifft Fälle, in denen Leistungsberichte nach Bekanntwerden eines Urteils, das auf sie selbst passt, einen Überprüfungsantrag stellen.

Bewilligung von Leistungen

Verlängerung des Bewilligungszeitraumes: Leistungen werden in der Regel für zwölf statt bisher sechs Monate bewilligt (§ 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II neu).

Vorläufige Entscheidung: Statt eines Verweises auf das SGB III wird die vorläufige Entscheidung nun im neuen § 41a SGB II geregelt. Zwingend vorläufig zu entscheiden ist, wenn für die Feststellung des (wahrscheinlichen) Anspruchs oder zur Klärung der Höhe eines dem Grunde nach bestehenden Anspruchs längere Zeit erforderlich ist (zum Beispiel bei unklaren oder schwankenden Einkommen).

Für die endgültige Entscheidung gilt: Bei unzureichender Mitwirkung stellen die Jobcenter nur einen Leistungsanspruch für die aufgeklärten Monate fest und versagen ansonsten die Leistungen (§ 41a Abs. 3 SGB II neu).

Neue Hinweise der Bundesagentur für Arbeit

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) passt zur Zeit ihre fachlichen Hinweise an die neue Rechtslage an. Zu vielen Paragrafen liegen bereits neue Hinweise vor.

Die Hinweise zu vorläufigen Entscheidungen enthalten zwei wichtige Aussagen, auf die man sich berufen kann, wenn ein Jobcenter das zukünftige Einkommen zu hoch schätzt: Größere Einkommensunterschiede sind zu berücksichtigen! In diesem Fall darf kein Durchschnittseinkommen zugrunde gelegt werden, da es in Monaten mit geringen Einkommen zu einer Bedarfsunterdeckung führen würde.

Auch bei Selbstständigen kann von einer gleichmäßigen Verteilung des Einkommens auf alle Monate abgesehen werden (Randziffer 41 a.19).

Die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit sind verbindliche Vorgaben.

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