»Ich möchte einfach hier sitzen«

Krankenkassenstudie: Die Deutschen sind gestresst, besonders wenn sie arbeiten

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

60 Prozent der Erwachsenen in diesem Land stehen unter Stress. Das ist ein Ergebnis der dritten Stressstudie, die das Forsa-Institut im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) durchgeführt hat. Wenig überraschend steht der Job mit 46 Prozent an der Spitze der Stressfaktoren, gefolgt von zu hohen Eigenansprüchen (42 Prozent), Termindichte in der Freizeit (33 Prozent), Straßenverkehr (30 Prozent) und digitaler Erreichbarkeit mit 28 Prozent. Das Resultat: Die Hälfte der Gestressten leidet unter Rückenschmerzen, ein Drittel fühlt sich erschöpft und ausgebrannt.

Drei von zehn Beschäftigten gaben an, ständig erreichbar zu sein. Bei ihnen liege die Stressbelastung besonders hoch. Drei Viertel der Befragten leiden darunter, ein Viertel klage über »Dauerdruck«. Darum forderte TK-Chef Jens Baas am Mittwoch in Berlin ein Ende des »always on«: »Wenn 30 Prozent der Erwerbstätigen sagen, dass sie auch nach Feierabend und im Urlaub erreichbar sein müssen, dann läuft in der Betriebsorganisation etwas falsch.«

»Früher haben wir uns beim Rausgehen gefragt, ist der Herd aus. Heute gucken wir, ob das Telefon dabei ist, und gucken unterwegs ständig auf das Ding«, sagte Holger Stanislawski, Ex-Trainer vom FC St. Pauli und heute Chef eines Supermarktes mit 135 Beschäftigten. Er ist Stress gewohnt. Um diesen in den Griff zu bekommen, setzt Stanislawski auf »gute Führung, eine wertschätzende Feedbackkultur und gesunde Arbeitsbedingungen«, sagte er am Mittwoch. Und er erinnerte an den legendären Frühstückssketch von Loriot, dessen Satz »Ich möchte einfach nur hier sitzen« fast Kulturgut ist.

Überhaupt, die Kultur. »Ist es wirklich notwendig, dass Beschäftigte immer erreichbar sein müssen?« Ist es nicht. Darum sei ein Kulturwandel bei der Arbeit nötig, meint Baas.

»In unserer Betriebsratbefragung 2015 haben branchenübergreifend 60 Prozent der Teilnehmenden angegeben, dass in den Unternehmen sehr hoher Termin- und Zeitdruck herrscht und die von den Beschäftigten geforderte Arbeitsleistung zu hoch sei (Arbeitsintensität)«, sagte Elke Ahlers vom Bereich Arbeit und Gesundheit am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Die lange geplante Antistressverordnung von Arbeitsministerin Andres Nahles (SPD) könnte dem etwas entgegensetzen, so die Sozialwissenschaftlerin. Ahlers kritisiert scharf, dass die vor gut 20 Jahren gesetzlich festgeschriebene Verpflichtung für Unternehmen, eine Gefährdungsbeurteilung für Arbeitsplätze zu erstellen - auch psychische Gefährdungen - kaum umgesetzt wird und es für Verstöße kaum Sanktionen gibt. »Unternehmer, Betriebsärzte und Betriebsräte fühlen sich oft überfordert, wenn sie psychische Belastungen für den Arbeitsschutz thematisieren sollen.«

»Gute Arbeit heißt vor allem auch gesunde Arbeit«, sagte Katja Mast, arbeits- und sozialpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion gegenüber »nd«. Auch einmal nicht erreichbar zu sein, sei »die große Herausforderung unserer Arbeitswelt heute«. Dazu brauche es aber auch Verbindlichkeit, so Mast weiter. Deshalb sei sie eine Anhängerin einer Antistressverordnung, »die langfristig mit für eine bessere und dauerhafte Gesundheit über das gesamte Erwerbsleben sorgt«.

»Die Ergebnisse der TK-Studie stellen deutschen Arbeitgebern ein Armutszeugnis aus. Arbeit ist die Hauptursache für Stress. Selbst jüngere Beschäftigte fühlen sich abgearbeitet und verbraucht und die ständige Erreichbarkeit nach Feierabend oder im Urlaub setzt den Menschen zu«, so LINKE-Chef Bernd Riexinger auf »nd«-Anfrage. Die Sprecherin für ArbeitnehmerInnenrechte der Grünen-Fraktion, Beate Müller-Gemmecke, kritisierte, die Koalition bringe jahrelang nur Studien auf den Weg. Aus dem Arbeitsministerium hieß es auf Anfrage, man befinde sich derzeit »im Prozess der Datenaufarbeitung, -auswertung und Prüfung«. Die Ergebnisse des von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin durchgeführten Projekts »Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt - Wissenschaftliche Standortbestimmung« würden derzeit ausgewertet und mit VertreterInnen des Arbeitsschutzes und der Sozialpartner diskutiert.

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