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Fröhliche Schichtarbeit
Weihnachten ist, wenn die Gans nur für die anderen brät
Auch zum Fest der Liebe ertönt das Lied der »fehlenden Leistungsbereitschaft«. Man müsse mehr arbeiten, die Rente später antreten und die Arbeitszeiten weiter entgrenzen, so der Tenor, um die »Wettbewerbsfähigkeit« zu erhalten. Doch während über Mehrarbeit debattiert wird, ist die viel beschworene Flexibilität für viele längst bittere Realität. Das geht aus einer neuen Erwerbspersonenbefragung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hervor. Während die einen die Weihnachtsgans tranchieren, halten andere in der Notaufnahme, im Logistikzentrum oder hinter dem Tresen die Stellung.
Den Daten zufolge, die das WSI am Freitag veröffentlichte, müssen dieses Jahr allein an Heiligabend 24 Prozent der Erwerbstätigen am Vormittag arbeiten. Selbst wenn ab 14 Uhr das Ladenschlussgesetz greift, ist für knapp jeden Zehnten (neun Prozent) noch lange nicht Schluss. Über 80 Prozent derjenigen, die sich dieses Jahr am 24. Dezember verdingen müssen, waren bereits in den vergangenen drei Jahren an Heiligabend im Dienst. Für die Studie wurden 5800 Erwerbspersonen befragt.
»Die Zahlen illustrieren, dass die Erwerbstätigen und die Arbeitszeiten in Deutschland sehr flexibel sind: Was erledigt werden muss, kann erledigt werden«, ordnet Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI, die Ergebnisse ein. »Das gilt auch an Tagen, die die allermeisten Menschen lieber mit Familie oder Freunden verbringen als im Job.«
Reichtum schützt vor Feiertagsschichten
Zuschläge – sofern sie gezahlt werden – oder die Flucht vor dem Familienfest können auch durchaus Gründe sein, den Dienst freiwillig anzutreten. Doch das gilt längst nicht für alle. Die Studie legt eine tiefe soziale Kluft offen. Feiertagsarbeit ist in Deutschland keine solidarisch verteilte Last, sondern trifft vor allem Geringverdiener. In der untersten Gehaltsstufe (Haushaltseinkommen unter 1500 Euro) müssen 14 Prozent am Nachmittag des »Heiligen Abends« arbeiten, während es in der höchsten Gehaltsstufe nur sieben Prozent sind.
Auch die Geografie folgt einem alten Muster: Im Osten der Republik wird deutlich mehr gearbeitet als im Westen. Während im katholisch geprägten Bayern nur 17 Prozent am Vormittag des 24. Dezember zur Arbeit müssen, sind es im säkularisierten Sachsen-Anhalt 31 Prozent.
Logistik und Gastronomie mit Spitzenwerten
In Branchen, die den festlichen Konsum erst ermöglichen, erreichen die Zahlen Höchstwerte. Im Bereich Verkehr und Logistik muss am Vormittag des 24. Dezembers fast die Hälfte der Beschäftigten (49 Prozent) arbeiten. Im Gastgewerbe ist es an den Weihnachtsfeiertagen und Silvester oft weit über ein Viertel der Belegschaft, die dafür sorgen, dass der Braten auf dem Tisch steht oder die Sektkorken knallen.
WSI-Direktorin Kohlrausch warnt mit Blick auf die laufende Debatte um die Wochenhöchstarbeitszeit davor, diese bestehende »Flexibilität« auszuweiten: Arbeitszeiten dürfen nicht weiter ausufern, und die tägliche Höchstarbeitszeit muss als Schutzwall erhalten bleiben, fordert sie.
Bevor die nächsten Forderungen nach einer Entgrenzung der Arbeitszeit laut werden, sollte man sich klarmachen: Viele arbeiten bereits dann, wenn alle anderen freihaben – und das oft für einen Lohn, der kaum für die eigene Weihnachtsgans reicht.
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