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Geschönte Bilanz fürs Wahljahr

Entwurf zum Armuts- und Reichtumsbericht 2017 interpretiert Zahlen neu

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.

»Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter materieller Not«, heißt es im noch nicht veröffentlichten Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung, aus dem die »Saarbrücker Zeitung« am Montag zitierte. Nach Zählweise des federführenden Bundesarbeitsministeriums sei demnach jedes 20. Kind mit Armut konfrontiert. Seit dem Anstieg der Zahlen bis Mitte des vergangenen Jahrzehnts habe sich die Armutsrisikoquote bei Kindern nicht weiter erhöht, behaupten die Autoren. Wenn der Anteil der Haushalte »mit einem beschränkten Zugang zu einem gewissen Lebensstandard und den damit verbundenen Gütern« betrachtet werde, dann seien fünf Prozent der Kinder betroffen. Das überrascht, stieg doch die Armutsgefährdungsquote den letzten Jahren immer weiter an. Lag sie 2003 noch bei 13,5 Prozent, waren es 2014 bereits 16,7 Prozent. Da Alleinerziehende und Familien mit geringen Einkommen als besonders gefährdet gelten, scheint es unwahrscheinlich, dass die Kinderarmut stagniert oder gar rückläufig ist.

Beim Blick auf die Zahlen, mit denen die Regierung im Entwurf arbeitet, drängt sich der Verdacht auf, dass man hier die Armut unter Kindern kleinrechnet. Das Deutsche Kinderhilfswerk zählt zum Beispiel drei Millionen Kinder, die hierzulande in Armut leben. Jedes fünfte Kind sei betroffen, so der Verband. Tatsächlich räumen die Autoren des Berichtes ein, dass von den insgesamt 12,9 Millionen Kindern in Deutschland bis zu 2,4 Millionen - also mehr als ein Fünftel - einem Armutsrisiko unterlägen, weil die Haushalte, in denen sie lebten, über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügten. Allerdings ist Armutsgefährdung nach Lesart der Bundesregierung nicht gleichbedeutend mit Armut.

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, kritisierte am Montag gegenüber »neues deutschland« den »durchsichtigen Versuch, einen neuen politisch angenehmeren Armutsbegriff zu installieren«. Bei der ausgegebenen Quote von fünf Prozent gehe es nicht mehr um Teilhabe, sondern tatsächlich nur noch um materielle Deprivation. »Für uns jedoch bleibt es dabei: Armut ist, wenn Kinder am ganz normalen Alltag in der Gesellschaft nicht mehr teilhaben können. Und das betrifft nicht nur jedes zwanzigste Kind, sondern mittlerweile fast jedes fünfte Kind«, so Schneider.

Die Vorsitzende der LINKEN, Katja Kipping, verwies am Montag auf Daten des Statistischen Bundesamtes, die im Rahmen der Europäischen Vergleichsstatistik EU-SILC 2015 veröffentlichten wurden. Demnach seien in Deutschland sind 19,6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Ihr Fazit: »Die Bundesregierung versucht, die Armut und Ausgrenzung von Kindern kleinzureden.«

Tatsächlich ist der Armuts- und Reichtumsbericht ein Politikum. Der letzte Bericht erschien nach langen koalitionsinternen Streitereien im März 2013. Zuvor hatte der damalige Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) interveniert und kritische Passagen tilgen lassen. Etwa den Satz »Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt«. Auch die Passage zu der wachsenden Schar von Niedriglöhnern wurde zensiert.

Der nächste Bericht, aus dem die Zahlen zur Kinderarmut stammen, soll 2017 veröffentlicht werden. Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Große Koalition vor der Bundestagswahl im Herbst kein allzu schlechtes sozialpolitisches Zeugnis ausstellen wird.

Sicherheitshalber kopierten die Autoren des aktuellen Entwurfs ganze Passagen aus dem letzten Bericht. Das legen zwei Dokumente nahe, die »nd« vorliegen. So findet sich im Entwurf der Satz: »Die Armutsrisikoquote von Erwerbstätigen ist etwa halb so hoch wie im Durchschnitt der Bevölkerung und zudem im Berichtszeitraum nahezu konstant geblieben.« Das könnte man als Beleg dafür sehen, dass die Einführung des Mindestlohnes im Januar 2015 erfolgreich war. Allerdings ist der Satz, neben einigen anderen, einfach aus dem Bericht von 2013 kopiert worden.

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