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Das ganze Elend dieser Welt auf kleinstem Raum

Notizen vom Dokumentarfilm-Festival Leipzig: Flüchtlinge in Telefonzellen, ein radikaler Islamist, respektlose KZ-Touristen

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 3 Min.

Auch dieses Jahr fanden die sozialen Bewegungen auf der Welt ihren Widerhall bei »DokLeipzig«, der 59. Ausgabe des ältesten Dokumentarfilm-Festivals der Welt. Erlebnisberichte, Reportagen und anklagende Stimmungsbilder von den Brennpunkten der Zeit: Flüchtlingskrise, regionale Konflikte, Umweltgefährdungen, weltweite fortschreitende Verelendung.

Einen bemerkenswerten Schwerpunkt bildeten die Filme aus der Türkei, von Türken gedreht, den Kennern der dortigen Probleme. Grotesk und bitter zugleich ist es, dass die realen Entwicklungen die Filme in rasantem Tempo überholen, ohne dass diese Filme damit gegenstandslos würden. »Callshop Istanbul« (von Sami Mermer und Hind Benchekroun) bündelt die Flüchtlingsproblematik und Massenproteste am Gezi-Park durch eine strikte Konzentration auf einen Schauplatz besonderer Art: Aus Telefonzellen im Zentrum der Stadt telefonieren handylose Flüchtlinge mit ihren Angehörigen und Freunden. Sie berichten von ihrer Lage, trösten, weinen auch, fragen, jeder in seiner Sprache. Man erfährt keine einzige Biografie. Die Kamera blickt ganz nah in die Gesichter. Die beklemmende Nähe zu den Protagonisten und der Originalton aus den Kabinen, verfremdet durch den Innenraum-Hall, befördert die Anteilnahme: das ganze Elend dieser Welt auf kleinstem Raum.

Ähnlich personalisiert Vitaly Mansky in »Rodnye« die Widersprüche in der Ukraine und der Krim: Der Regisseur befragt seine Tanten, die in den betroffenen Gebieten leben. Jede hat ihre eigene Sicht auf die Dinge. So setzt Mansky eine kuriose Mischung zusammen aus Patriotismus, Nostalgie (gegenüber der Sowjetzeit), Sentimentalität und Skepsis gegenüber allem Neuen, Anderen, die derzeit Regierenden eingeschlossen, auch Beschweigen. Die Politik hat - einmal mehr - eine Familie auseinandergerissen. Von einem anderen Riss erzählt »Bruder Jakob« (Eli Roland Sachs): Jakob, ein junger Deutscher, ist zum Islam übergetreten und radikalisiert sich allmählich. Sein Bruder, der Filmemacher, will seine Gründe kennenlernen und beobachtet ihn lange. Der Bruder bleibt ihm fremd, aber der Zuschauer erfährt sehr viel über psychologische Facetten eines solchen Wandels, ohne ihn gutheißen zu müssen. »Moschee DE« (Mina Salehpour, Michael Honnens) lässt weit auseinandergehende Meinungen der Anwohner aufeinanderprallen, als eine Moschee gebaut werden soll: Ablehnung, Provokation, Hass, Gleichgültigkeit - das ganze Spektrum, das man heutzutage finden kann, hier als szenische Rekonstruktion eines tatsächlichen Baus. Die strenge Struktur gestattet übergenaue Formulierungen der Meinungen und lässt die Konflikte scharf hervortreten.

Und dazwischen ein schwerer Brocken: »Austerlitz« von Sergei Loznitsa, in schlichtem Schwarz-Weiß gedreht und in überlangen Einstellungen. Er sieht hochsommerlich gekleideten Touristen beim lockeren Bummeln durch ehemalige NS-KZ zu. Sie lassen sich treiben, scherzen, gucken wahllos herum, einige folgen den Audioguides, eine fröhliche Statisterie. Mit einem Selfie vor der Torinschrift »Arbeit macht frei«. Erinnerung und Gedächtnis spielen keine Rolle, es geht nur ums ahistorische Jetzt und ums Sofort. Loznitsa, Dauergast in Leipzig, gibt keine Tipps (anders als in seinem »Maidan«-Film, in dem die Kiewer Umstürzler als Massen-Protagonisten erkennbar wurden). Seine Gnadenlosigkeit lässt zu, dass die historische Dimension des ehemaligen KZ zurücktritt. Weder der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen noch die Geschichte des Ortes als NKWD-Speziallager kommen ins Bild. Dem Problem, dass historische Gedenkorte zu Touristen-Events verkommen, müssen sich auch die Gedenkstätten selbst stellen, und sie haben bislang noch keine praktikablen Antworten. Auch Loznitsa hat keine Antwort, keinen Vorschlag, nur Ratlosigkeit. (Und ein Verweis auf W. G. Sebalds Verrätselungsroman gleichen Titels hilft kaum weiter.) Die Jury-Begründung für die Verleihung der »Goldenen Taube« an den Film aber, man bekomme »jede Menge Zeit, nochmals darüber nachzudenken, was sich vor noch gar nicht so langer Zeit in der Mitte Europas ereignet hat«, geht an der Substanz des Films vorbei. So viele Filme, und die Widersprüche bleiben.

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