Studien an Demenzkranken erlaubt

Medikamententests unter den Bedingungen einer Vorausverfügung / Minister Gröhe beklagt Fortschrittsfeindlichkeit von Abgeordneten

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz dürfen in Zukunft an klinischen Arzneimittelstudien teilnehmen - unter zwei Bedingungen: Sie müssen dem zu Zeiten geistiger Gesundheit zugestimmt haben, außerdem muss ein Arzt sie über die Risiken aufgeklärt haben. Das trifft auch für andere Menschen zu, die durch weitere Krankheiten nicht mehr selbst einwilligungsfähig sind. Bislang waren solche Studien nur erlaubt, wenn die Probanden theoretisch selbst noch einen Nutzen durch die Test-Medikamente erwarten konnten. Nun werden Untersuchungen möglich, deren Nutzen erst später, also für andere Patienten eintreten könnte. Die Erlaubnis zu dieser Form fremdnütziger Forschung wurde mit einer Bundestagsentscheidung vom Mittwochnachmittag ermöglicht. Die Abstimmung erfolgte ohne Fraktionszwang, 330 von 581 Parlamentariern votierten dafür.

Zur namentlichen Abstimmung standen drei Anträge, die jeweils Abgeordnete verschiedener Fraktionen quer durch die politischen Lager erarbeitet hatten. Das Verfahren war nötig geworden, weil eine kontroverse Debatte spätestens seit Mai das Gesetzgebungsverfahren begleitete. Hintergrund ist eine EU-Verordnung zu einheitlichen Regeln für klinische Studien mit Arzneimitteln, die in deutsches Recht umgesetzt werden soll. Strittig war dabei der Paragraf 40 b des Arzneimittelgesetzes. Am heutigen Freitag soll nun die gesamte Gesetzesnovelle im Bundestag verabschiedet werden.

Das Hin und Her zu dem Gesetzesvorschlag begann im Mai des Jahres, die Abstimmung musste mehrfach verschoben werden. Eine Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss wurde vertagt, weil zu wenig Zeit für Nachfragen eingeplant war. Die Zweite Lesung im Bundestag scheiterte im Juni an einer schriftlichen Beschwerde von Abgeordneten, die »erheblichen Diskussionsbedarf und offene Fragestellungen« sahen.

Die Gegner der Forschung an demenzkranken Patienten hatten sich bereits eine Mehrheit für ihren Vorschlag ausgerechnet, erhielten aber nur 254 Stimmen. Zu ihnen gehören die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), Kordula Schulz-Asche (Grüne) und Kathrin Vogler (LINKE). Sie wollten die bisherige Gesetzeslage beibehalten und hatten ausführliche Beratungen über das ethisch brisante Thema erst erzwungen. Sie kritisierten, dass die Vorausverfügung keinen Schutz biete. Niemand könne lange vorher wissen, an welcher Art Studie er später teilnehmen werde, so Schmidt. Ein Demenzkranker könne Nutzen und Auswirkungen der Forschung nicht mehr einschätzen. Das ethische Dilemma macht auch dem CDU-Abgeordneten Hubert Hüppe Sorgen. Er warnte davor, eine Tür aufzumachen, die man nicht mehr schließen könne. Die Kritiker der Gesetzesänderung, darunter Kirchen und Behindertenverbände, halten die Entscheidung für einen Dammbruch. Befürchtet wird, dass die Probandenschutzregelungen weiter aufgeweicht werden.

Auch die Mediziner sind in der Frage gespalten. Johannes Pantel, Altersforscher von der Universitätsklinik Frankfurt am Main, sieht keinen Nutzen für die Forschung durch die Gesetzesänderung. Sie wäre - mit dem Ziel wesentlicher Fortschritte für die Patienten - schon zuvor möglich gewesen. Wirksamkeits- und Diagnostikstudien seien nur für das Frühstadium der Krankheit relevant. Pantel gab auch zu bedenken, dass sich schwerwiegende Nebenwirkungen neuer Arzneimittel erst im fortgeschrittenen Stadium deutlich zeigten. Frank Schneider, Psychiater von der Universitätsklinik Aachen, ist hingegen überzeugt, dass bisherige Einschränkungen forschungsrelevante Studien in Deutschland unmöglich gemacht hätten. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der sich dem Mehrheitsantrag anschloss, bemängelte den »forschungsfeindlichen Ton« der Debatte. Er und weitere Befürworter setzen auf das Selbstbestimmungsrecht von Menschen, die bereit zur Studienteilnahme sind. Dazu zählt auch SPD-Gesundheitspolitiker Heiner Lauterbach, der Forschung zu fortgeschrittener Demenz nur an Kranken in fortgeschrittenen Stadien für möglich hält.

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