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Der fatale Irrtum eines Generalstabschefs

Wilhelm Hartmut Pantenius stutzt Alfred Graf von Schlieffen auf das rechte Maß zurück

  • Kurt Wernicke
  • Lesedauer: 4 Min.

Den »Schlieffen-Plan« kennen viele. Zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs war er gerade wieder in vieler Munde. Dessen Verfasser, Albrecht von Schlieffen (1833-1913), kennen die meisten hingegen kaum. So ist es denn auch sehr erfreulich, dass jetzt endlich eine zuverlässige, präzis aus persönlichem Nachlass, Akten und den Zeugnissen von Zeitgenossen geschöpfte Biografie auf den Buchmarkt kam.


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* Wilhelm Hartmut Pantenius: Alfred Graf von Schlieffen. Stratege zwischen Befreiungskriegen und Stahlgewittern. Eudora-Verlag. 1054 S., geb., 49 €.


Das voluminöse Werk zeichnet den Lebensweg eines bedeutenden Militärtheoretikers nach, der ganz in der preußischen Militärtradition stand, die seit friderizianischen Zeiten bestimmt war durch das Bewusstsein, stetig durch eine zahlenmäßig überlegene Koalition bedroht zu sein. 1863 zur Befehlszentrale der preußischen (dann preußisch-deutschen) Landstreitmacht, dem Großen Generalstab, kommandiert, wurde Schlieffen dort erst Abteilungsleiter und dann als Generalquartiermeister Stellvertreter des Generalstabschefs, bis er schließlich 1891 diesen Posten selbst einnahm.

Schlieffen erbte von seinem Vorgänger Waldersee (der dem legendären Helmut von Moltke 1886 im Amt nachgefolgt war) die erst in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre aufgetauchte Idee, dass man sich ungeachtet der traditionellen preußisch-russischen Freundschaft nun der bis dato unvorstellbaren Möglichkeit eines Krieges gegen Russland stellen müsse. Waldersee war sogar so weit gegangen, einen Präventivschlag gegen das östliche Nachbarreich in Erwägung zu ziehen. Zunächst als realitätsfremde Spinnerei abgeheftet, war nach der achtlosen Aufgabe des noch von Bismarck konstruierten deutsch-russischen Rückversicherungsvertrags 1891 das russisch-französische Verhältnis enger geworden. Das Gespenst einer gegen das Deutsche Reich gerichteten, es von Ost wie West umklammernden Militärkoalition nahm nun deutliche Konturen an. Diese Situation fand Schlieffen also vor, als er an die Spitze des Think-Tank am Berliner Königsplatz trat.

Der neue Generalstabschef war ein hundertprozentiger Moltke-Schüler. Als solcher huldigte er der extremen Ausnutzung der neuen technischen Möglichkeiten, die das 19. Jahrhundert dem Militär verschafft hatte: neben der enormen Steigerung der Feuer- (und damit Vernichtungs-)Kraft eine Revolution in der Mobilität und Kommunikation der zahlenmäßig wachsenden militärischen Verbände dank Eisenbahn und Telegrafie. Man musste auf die hier vorgelegte Biografie warten, um erstmals die Verbindung zwischen dem Ausbau des deutschen Eisenbahnnetzes und die neue Einstellung zur Möglichkeit eines Zwei-Fronten-Krieges zu erkennen. Deutlich wird die unter der neuen Konstellation geradezu zwangsläufige Verquickung der Moltkeschen Konzeption vom Vorteil der Beherrschung von Raum und Zeit mit der Konzeption der Notwendigkeit des Angriffskrieges. Im Grunde genommen entsprangen dieserart Prinzipien den verinnerlichten Erfahrungen aus der erfolgreichen Umsetzung der von Moltke herrührenden Strategie von 1866 (Königgrätz) und 1870 (Sedan): schneller Sieg auf dem Schlachtfeld und dann voller diplomatischer Einsatz für einen raschen Frieden (den es nach Sedan wie 1866 hätte geben können, wäre nicht die deutsche Gier nach Elsaß-Lothringen gewesen, die den Krieg um sechs Monate verlängerte)!

Nach diesem Konzept, das auf einen kurzen Krieg dank siegreicher Entscheidungsschlacht bis zum 40. Tag nach Kriegsbeginn zielte, setzte im August 1914 der deutsche Vormarsch gen Westen ein. Schlieffens Insistieren auf superschnellen Aufmarsch mittels intensiver Vorbereitung des gesamten Eisenbahnwesens zahlte sich aus: Im pünktlichen Abstand von zehn Minuten rollte ein Transportzug nach dem anderen über die Kölner Rheinbrücke in Richtung Westen. Aber das am grünen Tisch ausgeklügelte System der Angriffsstöße von Norden her und in den Rücken der französischen Heermasse hinein, um diese dem deutschen Aufmarsch an der französischen Ostgrenze in den Rachen zu treiben, funktionierte nicht. Es gab etliche Faktoren, die dem Erfolg des Schlieffen-Konzepts entgegenstanden. Ein wesentlicher Faktor war die Grenze physischer Leistungsfähigkeit von Mensch und Pferd, die Schlieffen und seine Planer in ihren Büros nicht in Betracht gezogen hatten. Das von ihnen vorgegebene Marschtempo war angesichts von massenhafter Erschöpfung nicht zu halten gewesen.

Und da muss der dankenswerterweise in viele Details vorstoßenden Biografie, die Schlieffens Lebensweg in anerkennenswerter Weise in das politische und militärische Umfeld und die Zeitläufte einbettet, doch ein Vorwurf gemacht werden: Weshalb hinterfragt sie nicht das Ausklammern der Erfahrung mit körperlicher Leistungsfähigkeit, wie sie schon im »Bruderkrieg« 1866 gemacht wurde?

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