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»Ich bin es, dein Selbstüberdruss«
Wozu reisen? Dies fragt sich der Schweizer Geschichtsprofessor Valentin Groebner – nach seinen vielen Reisen
Tourismus sei nichts weiter als Konsum, behauptet Valentin Groebner, Schweizer Geschichtsprofessor. Vor vier Jahren veröffentlichte er einen viel beachteten Essay unter dem Titel »Ferienmüde«, mit »Abgefahren« setzt er seine Betrachtungen zum Tourismus nun fort.
Nichts weiter als Konsum also? Was ist damit gemeint? Der Verfasser zählt auf: »Konsum von Infrastruktur, Ressourcen und Dienstleistungen; Konsum der Arbeit und der Lebenszeit anderer, gewöhnlich unsichtbarer Dienstleister, Flugbegleiter und Autobuschauffeure, Köche und Zimmermädchen, Tankwarte, Servicepersonal, Wartungsdienste.« Hinzu kommt die Fortbewegung inmitten von Massen, per Flugzeug, Bahn, Kreuzfahrtschiff ... Oder mit dem Wohnmobil, einfach »Wegfahren ins Wegfahren«, ohne Ziel, aber leer, wild und einsam sollte es sein, hohe Berge, Blick aufs Meer. Und dann? »Das Echte auf Reisen sind die anderen Reisenden, das Echte auf Reisen siehst Du nur im Stau.« Andere, die die Stille, Weite und Leere erobern wollen, andere, die den Lügen und Versprechungen der Werbeindustrie folgen, andere wie du.
Groebner gesteht: »Mein Griechenland ist mir in den wilden Bergen über dem leuchtenden Meer und mit all den Wohnmobilen am Strand aufgegangen, ist wie jedermanns Griechenland ohnehin kein wirklich existierender Ort, sondern eine Reinheitsfantasie. Der Wunsch nach diesem perfekten Ort ist nicht das Problem. Man muss nur damit zurechtkommen, dass seine Erfüllung jedes Mal unvollständig bleibt.« Wohin auch immer eine Reise zum Vergnügen führe, warnt der Autor, am Ende sei »ein verlässlicher Gefährte« nicht abzuschütteln: »Ich bin es, dein Selbstüberdruss.«
Reisen ist dazu da, um Geld auszugeben und Zeit zu verplempern. Mehr nicht.
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Griechenland ist eine unter vielen Stationen in diesem schmalen Buch. Auch durch die Atlantikküste lässt sich der Verfasser treiben, durch Burgund, den Kanton Uri oder Sri Lanka, mitunter ist er mit dem Rennrad unterwegs. Man finde allerlei Interessantes, schreibt Groebner, »aber gewöhnlich nicht das, was man sich so sehr gewünscht hat und weswegen man aufgebrochen ist«. Und er betont noch einmal: »Der einsame Ort, an dem alles stimmt, die idyllische Leere, die unberührte Landschaft, die Oase? Den gibt es. Man findet ihn aber erst dann, wenn man aufhört, danach zu suchen.«
Wozu dann all der Zinnober zwischen den Horden anderer Herumirrender? Reisen sei dazu da, um Geld auszugeben und Zeit zu verplempern, fasst Groebner zusammen. Mehr ist da nicht, weder verschwänden Sorgen noch käme man verjüngt, gewandelt oder weise zurück. Man verpasse aber auch nichts, wenn man nicht reise und könne seine freie Zeit ganz anders verbringen, ungezwungen nämlich und vergnüglich.
Seine Reisenotizen bereichert der Autor mit Rückgriffen auf die Geschichte und tiefgründigen Analysen, aber auch mit launigen Zuspitzungen und widersprüchlichen Erkenntnissen. Er klingt nicht selbstgerecht, denn unterwegs ist auch er Tourist. Entlarvend sind etliche gallige Zitate aus der Weltliteratur und beängstigend die präsentierten Daten zur Umweltzerstörung durch Massentourismus und dessen fatale Auswirkungen auf das Klima.
Als eine Widersprüchlichkeit des Massentourismus benennt Valentin Groebner, dass die »allermeisten« Reisenden gar nicht »Abgeschiedenheit, Schönheit und Stille« suchen würden: »Sondern andere Touristen. Mit Erfolg. Wahrscheinlich haben sie recht. Denn die Leere ist toll (und ganz einfach zu erreichen), aber mühselig. (…) Leere ist Blendung. Und Leere ist Fülle. Aber nur für mich – und nicht für die Leute, die in ihr leben und arbeiten.« Damit gibt er die Sichtweise wohlhabender Reisender wider.
Valentin Groebner: Abgefahren. Reisen zum Vergnügen. University Press Göttingen. 136 S., geb., 20 €.
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