Warum ist nicht einfach nichts?

Die Frage nach dem Existenzgrund der Welt gehört zu den berühmtesten Fragen der Philosophie

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Frage nach dem Existenzgrund der Welt gehört zu den berühmtesten Fragen der Philosophie. In den Worten des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) lautet sie: »Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?« Zu Deutsch: »Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?« In seiner 1935 gehaltenen Vorlesung »Einführung in die Metaphysik« griff auch der deutsche Existenzphilosoph Martin Heidegger dieses Thema auf und bezeichnete die Frage: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« als Grundfrage der Metaphysik.

Sie zu beantworten, gilt gemeinhin als ureigene Domäne der Philosophie. Das Nichts bleibe der Wissenschaft grundsätzlich verborgen, meinte Heidegger, wer es erforschen wolle, müsse »notwendig unwissenschaftlich« werden. Glücklicherweise haben sich Naturwissenschaftler nur selten an Denkverbote von Philosophen gehalten, sondern beharrlich versucht, den großen Welträtseln mit eigenen Modellen und Theorien beizukommen. So ist es zum Beispiel auch eine Frage der Physik, warum es in unserem Universum Galaxien, Sterne, Planeten und vernunftbegabtes Leben gibt und nicht bloß Licht bzw. Strahlung.

Zur Erklärung: Nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik, das derzeit die beste Beschreibung des Mikrokosmos liefert, existiert zu jedem Teilchen ein Antiteilchen. Zwischen beiden besteht vollständige Symmetrie insofern, als das Antiteilchen des Antiteilchens wieder das ursprüngliche Teilchen ist. In den meisten Eigenschaften (wie Masse, Lebensdauer, Spin etc.) stimmen beide Teilchensorten überein. Allerdings besitzen sie, sofern sie elektrisch geladen sind, unterschiedliche Ladungen gleicher Größe. So ist das Antiteilchen des Elektrons, das Positron, positiv geladen, das Antiteilchen des Protons, das Antiproton, negativ. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass auch die zur Kennzeichnung der übrigen inneren Eigenschaften dienenden ladungsartigen Quantenzahlen von Teilchen und Antiteilchen entgegengesetzt gleich sind. Das trifft ebenso auf das magnetische Moment zu.

Es war der deutsch-britische Physiker Arthur Schuster, der 1898 den Begriff Antimaterie zum ersten Mal verwendete. In zwei Briefen an die Zeitschrift »Nature« fabulierte er über Sternsysteme aus Antimaterie, die, wie er meinte, von normaler Materie durch Beobachtung nicht zu unterscheiden seien. 30 Jahre später stellte der britische Physiker Paul A. M. Dirac (siehe unten) diese Mutmaßung auf eine solide wissenschaftliche Grundlage. Als er die gerade entwickelte Quantenmechanik mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie verknüpfte, erhielt er eine Wellengleichung für das Elektron, deren Lösung sowohl positive als auch negative Energiewerte lieferte. Negative Energie - das schien absurd. Weil Dirac seine Gleichung aber für viel zu »schön« hielt, als dass sie falsch sein könnte, suchte er nach einer physikalischen Deutung der negativen Energiewerte. Und fand sie in den Antiteilchen, für deren reale Existenz es damals keine empirischen Hinweise gab. Aber bereits 1932 wies der US-Physiker Carl David Andersson auf Nebelkammeraufnahmen der kosmischen Strahlung das Antielektron nach, das er auf den Namen Positron taufte und welches exakt die von Dirac vorhergesagten Eigenschaften aufweist. Welch ein Triumph für die wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit des Menschen!

Elektronen und Positronen haben die Eigenschaft, dass sie sich, wie es mitunter heißt, beim Zusammentreffen in nichts auflösen. Tatsächlich wird dieser Vorgang Paarvernichtung oder Annihilation genannt. Genau genommen zerstrahlen die Teilchen, sie verwandeln sich in mehrere Photonen. Natürlich gibt es auch den umgekehrten Prozess, die Paarbildung. Hierbei gehen Elektron-Positron-Paare etwa im Feld eines Atomkerns aus energiereichen Photonen hervor.

Schwierig wird es, wenn man solche Paarprozesse für die Frühgeschichte des Universums voraussetzt. Denn kurz nach dem Urknall, vor etwa 13,7 Milliarden Jahren, entstanden gleich viele Teilchen und Antiteilchen, die sich durch Annihilation eigentlich sofort hätten auslöschen müssen. Doch das uns bekannte Universum ist voller Materie, zumindest innerhalb eines Radius von rund 30 Milliarden Lichtjahren. Wo aber ist die dazu gehörige Antimaterie geblieben? Hat sie sich sofort nach dem Urknall von der Materie entmischt und befindet sich außerhalb dieses Bereichs? Oder gibt es zwischen Materie und Antimaterie eine bisher unbekannte Asymmetrie, die dazu geführt hat, dass nach dem Urknall eine Winzigkeit an Materie übrigblieb, aus der sich schließlich unsere Welt formte?

Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und von der Universität Tokio haben die zweite Hypothese jetzt mit hoher Präzision überprüft. Am Kernforschungszentrum CERN bei Genf beschossen sie ein Helium-Target mit Antiprotonen, von denen etwa drei Prozent ein Hüllenelektron des Heliums ersetzten. Das heißt, die Heliumatome bestanden nach dem Beschuss teilweise aus Antiteilchen, deren hoch angeregte Umlaufbahnen etwa 100 Picometer (10-10 Meter) vom Atomkern entfernt waren. Um die thermische Bewegung der antiprotonischen Atome zu drosseln, wurden diese auf 1,5 bis 1,7 Grad Kelvin abgekühlt und so fast zum Stillstand gebracht. Dies war notwendig, um mögliche Annihilationen zu verhindern (»Science«, DOI: 10.1126/science. aaf6702).

Zur Bestimmung der Masse der Antiprotonen führten die Forscher zwischen 2010 und 2014 spektroskopische Messungen an Milliarden von Atomen durch. Dabei sei eine Genauigkeit von 800 zu einer Billion erreicht worden, erklärt Masaki Hori, Leiter der Forschungsgruppe »Antimatter Spectroscopy« am Max-Planck-Institut für Quantenoptik. Die Auswertung der Daten ergab, dass das Antiproton 1836,1526734 Mal so schwer ist wie das Elektron. Dieser Wert stimmt exzellent mit der zuvor erfolgten Messung des Verhältnisses von Protonen- und Elektronenmasse überein. Hori und seine Kollegen sind daher überzeugt: In der Natur herrscht eine fundamentale Symmetrie, kurz CPT-Invarianz genannt. Danach ändern sich die Gesetze in mikrophysikalischen Systemen nicht, wenn die Ladungen der Teilchen vertauscht (C), der Raum gespiegelt (P) und die Zeit umgekehrt (T) wird. Aus dem CPT-Theorem geht überdies hervor, dass eine Antiwelt von unserer Welt nicht zu unterscheiden wäre. Anti-Menschen würden die gleichen physikalischen Gesetze entdecken und die gleichen Erfahrungen machen wie Materie-Menschen. Allein die Frage, warum eine Antiwelt überhaupt existiert, könnten sie genauso wenig beantworten wie wir. Es sei denn, sie hätten bereits physikalische Einsichten gewonnen, die den unsrigen überlegen wären.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal