Mutmaßlicher türkischer Spion in Hamburg verhaftet
Geheimdienst unter Staatschef Erdogan führt offenbar Todesliste für in der EU lebende Kurden
Eine Todesliste, die der türkische Geheimdienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) über unliebsame Oppositionelle, Kurden und Aleviten in der EU und in Deutschland führt – ein mutmaßlicher türkischer Spion, der in Bremen und Hamburg Kurden ausspäht. Was sich anhört wie ein Krimi ist für in Deutschland lebende Kurden reale Gefahr.
Die Bundesanwaltschaft ließ vergangenen Donnerstag einen türkischen Staatsbürger in Hamburg festnehmen, der »im Auftrag des türkischen Geheimdienstes in Deutschland Informationen über Aufenthaltsorte, Kontaktpersonen und politische Tätigkeiten von in Deutschland lebenden Kurden sowie kurdischen Einrichtungen in der Bundesrepublik verschafft haben« soll.
Die Fraktionsvorsitzende der LINKEN in der Hamburger Bürgerschaft, Cansu Özdemir, hatte der Polizei Hinweise geliefert, die zu der Verhaftung führten und auf denen die Todeslisten vermerkt waren. Bis zur Inhaftierung hat es allerdings gedauert. Erstmals hatte die Kurdin Özdemir den Behörden von Morddrohungen gegen kurdische Aktivisten in Deutschland und Europa durch den MİT im April erzählt. Der in Bremen lebende kurdische Funktionär Yüksel Koc war auf sie zugekommen, nachdem er von einem türkischen Geheimdienstmitarbeiter gewarnt wurde, dass sein Name auf einer Todesliste stehen würde.
Koc ist Co-Vorsitzender des »Demokratischen Gesellschaftskongresses der KurdInnen in Europa« und somit »zur Zielscheibe des türkischen Staates« von Präsident Erdogan »und seines Geheimdienstes« geworden, wie er es am Donnerstag in Hamburg auf einer Pressekonferenz ausdrückte. In Gefahr seien »Kurden, aber auch weitere demokratische Kräfte, die in Europa leben und sich politisch betätigen«.
Ehefrau des mutmaßlichen Spions liefert Polizei Beweise
Dass er noch am Leben sei, verdanke er der Ehefrau des mutmaßlichen Spions. Diese hätte ihr Leben riskiert, erzählt Özdemir und zitiert aus einer SMS, die Koc bekommen habe und die die unter Zeugenschutz stehende Ehefrau des mutmaßlichen Spions bedroht: »Diese Hure hat ausgepackt, aber sie wird nicht für immer beschützt werden können.« Über Koc berichtet sie, er habe einen Anruf von einer ukrainischen Nummer bekommen: »Dieses Mal bist davongekommen, aber wir kriegen Dich!«
Wie viele in der kurdischen Gemeinde ist auch Özdemir verunsichert. Der mutmaßliche Mitarbeiter des MİT habe als Journalist getarnt Zugang zur kurdischen Gemeinde gesucht. Özdemir erzählt, wie ihr Vater den Mann auf einem Bild nach seiner Verhaftung wiedererkannte. Er sei auch bei ihm auf der Arbeitsstelle gewesen und habe gefragt, ob er nicht einmal mit seiner Tochter ein Interview machen könne.
Von der Polizei erfahre Özdemir kaum etwas, beschwert sie sich. Das Landeskriminalamt habe sie lediglich an diesem Freitag wissen lassen, dass sie nicht in Gefahr sei. Der Verdächtige sei weiterhin in Untersuchungshaft. Özdemir hat aber noch viele Fragen an die Sicherheitskräfte: »Hört der Terror jetzt auf? Hat er nur Informationen über uns sammeln sollen? Oder war der Verdächtige auch darauf angesetzt zu Morden?« Die kurdische Gemeinde ist verunsichert, spiegelt sich die Vorgehensweise des mutmaßlichen Spions doch der des Attentäters auf drei Aktivistinnen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK in Paris aus dem Jahr 2013. Da hatte der Täter auch erst einmal das Vertrauen der Gemeinde gewonnen, bevor er die Frauen ermordete.
Polizei gibt vertrauliche Informationen weiter an »Bild«
Özdemir verlangt auch vom Hamburger Innensenator Andy Grote Antworten auf die vielen Fragen, die sie ihm gestellt hat. Doch auch er redet nicht mit der Abgeordneten. Özdemir erhebt schwere Vorwürfe gegen die Hamburger Polizei. In der »Bild«-Zeitung habe sie Informationen gelesen, die nur sie, Koc und die im Zeugenschutz versteckte Ehefrau des Verdächtigen gewusst haben und die sie der Polizei mitgeteilt hatten. Besonders empört sie, dass sie neue Informationen nicht direkt von der Polizei bekommt, sondern dass diese die an die »Bild« geben. Dabei gehe es um ihre Sicherheit und die der kurdischen Gemeindemitglieder.
Auch deswegen hat Özdemir nach Absprache und mit Unterstützung ihrer Fraktion zusammen mit dem Funktionär Koc die Öffentlichkeit gesucht. Sie will weiter Informationen sammeln, Beweise liefern, dass der MİT in Deutschland tätig ist und Todeslisten führt.
Einschüchterungsversuche des türkischen Staates nehmen zu
Seit dem Militärputsch nehmen die Einschüchterungsversuche des türkischen Staates gegen Unliebsame in ganz Europa zu, sagt Özdemir. Es wird vermutet, dass Erdogan hinter der Aufforderung an seine in Deutschland lebenden Anhänger steht, Informationen über politisch Andersdenkende an die türkischen Behörden zu übermitteln. Özdemir fordert von der Bundesregierung, Erdogan Einhalt zu gebieten.
Denn, wie der auf der türkischen Todesliste stehende Kurde Koc es auf der Pressekonferenz ausdrückte, sei die Sicherheitslage kritisch. Koc begrüßt, dass sich der Verdächtige, der ihn ausspioniert haben soll, in Untersuchungshaft befindet. Allerdings: »Die Sicherheitskräfte reden von 6000 Agenten. Wo sind die restlichen 5999?« Bisher sind die Strukturen des MİT in Deutschland unbekannt. Nach seinen Kenntnissen seien im April drei Teams, aus jeweils zehn bis 15 Agenten bestehend, nach Deutschland gekommen. Mit dem Ziel: »Menschen zu eliminieren«.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!