5. »Wir brauchen Chancengleichheit«

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In Deutschland ist die »soziale Mobilität« gering. Das bedeutet: Wer aus reichem Hause kommt, bleibt meist Teil der Oberschicht. Wer aus armem Hause kommt, bleibt unten. Das ist ungerecht. Um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, muss daher die Chancengleichheit erhöht werden. »Chancengleichheit ist der Schlüssel zum Erfolg, nicht Umverteilung«, schreibt die »Süddeutsche Zeitung«.

Gegenargument:

Tatsächlich sind die Chancen in Deutschland ungleich verteilt, die soziale Mobilität ist gering. Mehr Chancengleichheit würde den Benachteiligten bessere Möglichkeiten zum Aufstieg gewähren. Chancengleichheit wird daher uneingeschränkt positiv bewertet. Aber Vorsicht: Je mehr eine Gesellschaft auf Chancengleichheit statt auf Umverteilung setzt, umso ungleicher wird sie. Warum?

Erstens geht es bei dem Plädoyer für Chancengleichheit - zuweilen auch zur nebulösen »Chancengerechtigkeit« abgeschwächt - nie um die Gleichheit des Marktergebnisses, also der Einkommens- oder der Vermögensverteilung. Sondern nur um die Gleichheit der Ausgangsbedingungen. Chancengleichheit bedeutet schlicht: Jede und jeder soll die gleiche oder zumindest eine »gerechte« Möglichkeit haben, an der Konkurrenz teilzunehmen.

Zweitens wird zuweilen angenommen, Chancengleichheit führe zu gleicherer Verteilung von Einkommen und Vermögen. Doch dies trifft nicht zu. Man stelle sich einen 100-Meter-Lauf vor, bei dem die Teilnehmer Chancengleichheit erfahren. Es ist völlig unklar, wie die konsequent herzustellen wäre. Und selbst wenn dies gelingt, so zeitigt auch der chancengleiche Wettbewerb Gewinner und Verlierer. Am Ende hat einer gesiegt, die anderen haben verloren, einige sind reich und andere arm. Chancengleichheit hätte nur Einfluss darauf, welche konkreten Personen reich sind und welche nicht.

Das heißt aber drittens, dass gleiche Chancen - also gleiche Ausgangsbedingungen - am Ende nichts anderes bedeuten, als dass das Recht des Stärkeren, des »Leistungsfähigeren« gilt. Wenn alle anderen Faktoren wie Herkunft, Beziehungen usw. wegfallen, herrscht der reine Wettbewerb um Einkommen und Jobs. Chancengerechtigkeit ist das Gerechtigkeitsideal des Neoliberalismus. Den in der Konkurrenz Unterlegenen kann damit die Schuld an ihrer Niederlage zugewiesen werden. Das öffnet das Tor zum Leistungsrassismus, wie ihn etwa Thilo Sarrazin vertritt: »In einer wirklich chancengleichen Gesellschaft ist jemand nur noch aus Gründen ›unten‹, die in seiner Person liegen.« Chancengleichheit dient also dazu, Ungleichheit zu rechtfertigen, nach dem Motto: Die Gewinner und Gewinnerinnen waren eben besser, tüchtiger, leistungsfähiger als die Verlierer!

Das Projekt »Chancengleichheit« lässt sich damit zur sozialen Befriedung nutzen. »In allen Grundsatzdebatten wird Chancengleichheit zur großen Versöhnungslösung, die es verschmerzen lässt, dass Ergebnisungleichheit fast unausrottbar erscheint«, schreibt Ulrich Pfeiffer vom Managerkreis der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Gleichzeitig lässt sich materielle Ungleichheit viel leichter tolerieren, wenn jeder Einzelne das Gefühl hat, dass er oder sie es schaffen kann.

Viertens: »Chance« - die pure Möglichkeit des Erfolgs - ist ein positiv besetzter Begriff. Wer eine Chance hat, der darf sie nutzen. Sie erscheint als ein Gut, als etwas, das man besitzt und das man nutzen kann. Nicht hinterfragt wird, wer die Bedingungen für Erfolg setzt, denen sich alle, die »ihre Chancen nutzen«, unterwerfen müssen. »Die naive Zustimmung zu einer Veranstaltung, in der Chancen gegeben werden, befördert daher vornehmlich den objektiven Nutzen solcher Interessengruppen, die die Bedingungen der Chancen hergestellt haben und kontrollieren«, so der Pädagoge Helmut Heid.

So wichtig mehr Chancengleichheit gerade für die Benachteiligten wäre - zu mehr Gleichheit der Ergebnisse führt sie nicht, solange die Bedingungen von Auslese und Konkurrenz gleich bleiben.

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