Belgien unter EU-Spardiktat

Der Staatshaushalt soll drastisch beschnitten werden. Betroffen sind auch politische Institutionen

  • Jürgen Klute, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.
Protest gegen »Reformen« am Rentensystem im Februar in Brüssel
Protest gegen »Reformen« am Rentensystem im Februar in Brüssel

Dass auch Abgeordnete Geld brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, stellt niemand infrage. Unmut lösen hingegen oft die Höhe der Vergütungen aus und der Sachverhalt, dass die Parlamentarier*innen – im Unterschied zur Mehrheit der Steuerzahlenden – über ihre eigenen Gehaltserhöhungen entscheiden. Selbst wenn Abgeordnete Haushaltskürzungen durchsetzen und große Teile der Bevölkerung Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, steigen in der Regel die Bezüge der Volksvertreter*innen. 

In Belgien gibt es zu dieser Regel nun eine Ausnahme: Das Brüsseler Regionalparlament hat auf seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause am 10. Juli einstimmig eine fünfprozentige Kürzung der Abgeordnetenbezüge beschlossen. Sie tritt nach der Sommerpause in Kraft.

Weshalb kam es dazu? Belgien hat die EU-Vorgaben zu Haushaltsdefiziten erheblich überschritten. Statt 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) betrug das Defizit Belgiens im vergangenen Jahr 4,5 Prozent – Tendenz steigend. Die Gesamtverschuldung lag 2024 bei 104,7 Prozent des BIP – statt bei 60 Prozent, wie in den Maastricht-Kriterien vorgesehen. Entsprechend drängt die EU darauf, dass Belgien die öffentlichen Haushalte konsolidiert. 

Zum einen wird über eine Steigerung der Beschäftigungsquote verhandelt, um Einnahmen zu steigern. Die flämische sozialdemokratische Partei Vooruit, die Teil der föderalen Arizona-Regierung ist (benannt nach den Farben der Koalitionsparteien N-VA, wallonische Liberale, flämische und wallonische Christdemokraten, flämische Sozialdemokraten), will eine zehnprozentige Kapitalertragssteuer auf Erträge ab 10 000 Euro einführen.

Liberale und die Rechtsaußenpartei N-VA wollen ihrerseits die bisher unbefristet gezahlte Arbeitslosenhilfe zeitlich begrenzen. Dagegen wehrt sich die belgische Arbeitsverwaltung. Auch die Höhe der Renten steht auf dem Prüfstand, was bereits zu verschiedenen Streiks geführt hat. Ein Teil der Regierung würde zudem gerne Belgiens wichtigstes Instrument zur Armutsbekämpfung zur Diskussion stellen: die Indexierung. Damit wird die jährliche Anpassung aller Einkommensarten in Belgien an die Inflationsrate bezeichnet. Aber das wird kurzfristig kaum durchsetzbar sein. Die Liberalen wollen zudem im Energie- und Verkehrssektor größere Einschnitte vornehmen; Belgien investiert viel in die Energie- und Verkehrswende. 

Auffallend ist, dass es bisher keine Hetz-Debatten gegen die Ärmsten in der Gesellschaft gibt und auch keine gegen Migrant*innen, obgleich die N-VA die Migration reduzieren will und der Vlaams Belang als faschistisch-rassistische Partei sich klar gegen Einwanderung ausspricht. Der Vlaams Belang spielt in der öffentlichen Debatte allerdings keine Rolle, da in Belgien auch die Medien die vereinbarte »Brandmauer« respektieren. 

Bereits unter normalen Umständen wäre eine sozial ausgewogene Sanierung des belgischen Staatshaushaltes im Sinne des auf deutschen Druck eingeführten Euro-Stabilitätspaktes nur schwer erreichbar: Sie würde 40 Milliarden Euro an Ausgabenkürzungen erfordern. Nun kommt aber noch die von den Nato-Mitgliedstaaten geforderte Erhöhung des Militäretats auf 5 Prozent des BIP hinzu. Das entspricht zusätzlichen Ausgaben von etwa 20 Milliarden Euro, die andernorts zusätzlich eingespart werden müssen.

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Der belgische Verteidigungsminister Theo Francken (N-VA) steht hinter der Nato-Forderung. Aber der Vooruit-Vorsitzende Conner Rousseau möchte lieber seinem spanischen Kollegen Sanchez folgen und deutlich weniger fürs Militär ausgeben, als die Nato will. Sammy Mahdi, Chef der flämischen Christdemokraten (CD & V), fürchtet, dass die Erfüllung der Nato-Forderung Kürzungen im Sozialbereich unumgänglich macht, die die CD & V ablehnt. Und selbst der Vorsitzende der wallonischen Liberalen, Georges-Louis Bouchez, hält die Nato-Forderung für unrealistisch. 

Gert Peersman, Ökonom an der Universität Gent, hält das Nato-Ziel ebenfalls für überzogen und schlägt in »De Morgen« stattdessen eine deutlich günstigere europäische Armee vor. Und der Ökonom Jonas Van der Slycken votiert in der Zeitung für einen schnellen Ausstieg aus fossiler Energienutzung. Der treffe Putins Kriegskasse und spare in der EU Milliarden Euro ein. Außerdem sollten die öffentlichen Kassen durch eine Kerosin- oder Flugsteuer aufgefüllt werden.

Angesichts der Summen, um die es geht, rettet die fünfprozentige Kürzung der Abgeordnetenbezüge zwar nicht den Haushalt, aber als Akt der politischen Hygiene und der Fairness ist dies ein respektabler Beitrag der Abgeordneten des Brüsseler Regionalparlaments.

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