Datenpanne mit tödlichen Konsequenzen

Großbritannien muss nach Leak tausende Afghanen heimlich ins Land holen

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.
Schon nach der chaotischen Flucht der Invasionstruppen aus Afghanistan wurde vor dem Schicksal der zurückgelassenen Dolmetscher und Helfer gewarnt.
Schon nach der chaotischen Flucht der Invasionstruppen aus Afghanistan wurde vor dem Schicksal der zurückgelassenen Dolmetscher und Helfer gewarnt.

Am Dienstag gab der britische Verteidigungsminister John Healy im Unterhaus ein Statement über »eine größere Datenpanne« ab, wie er es nannte. Es folgte eine explosive Enthüllung, die in Großbritannien seit Tagen für Aufregung sorgt: Anfang 2022 gab das Verteidigungsministerium aus Versehen eine hochsensible Liste mit den Namen von mehreren tausend Afghanen, die in Großbritannien Schutz beantragt hatten, an Dritte weiter.

Für die genannten Personen war das brandgefährlich: Es waren größtenteils Leute, die mit den britischen Streitkräften zusammengearbeitet hatten – das machte sie zu einer Zielscheibe für Racheakte durch die Taliban. Healy entschuldigte sich im Namen der Regierung bei den Betroffenen. Am Donnerstag folgte eine weitere brisante Meldung: Die geleakte Liste enthält auch die Namen von über 100 britischen Funktionären, darunter Geheimdienstmitarbeiter.

Regierung verhängte jahrelange Mediensperre

Der Fall ist erst jetzt publik geworden, weil die Regierung die Berichterstattung darüber zwei Jahre lang per Gerichtsverfügung untersagt hatte. Eine Reihe von Medienorganisationen hatten seit langer Zeit gegen das Nachrichtenverbot angekämpft, es wurde schließlich am Dienstag aufgehoben.

Die britischen Streitkräfte hatten ihre Kampfhandlungen in Afghanistan bereits 2014 eingestellt, blieben aber bis im Sommer 2021 im Land, als die Taliban die Macht zurückeroberten und die westlichen Streitkräfte eilig den Rückzug antraten. Das Leak erfolgte ein halbes Jahr später, im Februar 2022. Ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums schickte zwei E-Mails an Dritte und hängte versehentlich die falsche Personenliste an. Auf der Liste standen Namen und Details von rund 18 700 afghanischen Staatsbürgern, die eine Übersiedlung nach Großbritannien beantragt hatten. Weil sie den britischen Streitkräften geholfen hatten – meist als Übersetzer oder Berater –, galten sie den Taliban als Feinde, es drohten ihnen Verhaftung, Folter und Exekution. 

Bald wurde die Liste in Teilen auf Facebook gepostet. Als das Verteidigungsministerium 18 Monate später darauf aufmerksam wurde, beantragte es sofort eine Nachrichtensperre, damit niemand über das Datenleak berichten konnte. Zusätzlich erwirkte die Regierung – damals waren noch die Tories an der Macht – eine sogenannte super-injunction: eine Unterlassungsverfügung, die es den Medien verbietet, über die Existenz des Maulkorberlasses zu berichten. Es war also ein totales Verbot, den Fall auch nur zu erwähnen.

Geheimes Übersiedlungsprogramm für Afghanen

Diese ungewöhnlich strikte Geheimhaltung wurde mit dem extremen Risiko für die betroffenen Afghanen gerechtfertigt. Die Nachrichtensperre erlaube es »der britischen Regierung, alles zu tun, um jenen, die in Gefahr sind, zu helfen«, wie der Richter sagte. Die Regierung richtete ein geheimes Übersiedlungsprogramm für die auf der Liste genannten Afghanen ein, die Afghanistan Response Route. Über diese Route sind laut Verteidigungsminister Healy bislang 4500 Afghaninnen und Afghanen nach Großbritannien gekommen. Parallel dazu lief ein öffentlich bekanntes Migrationsprogramm, über das knapp 35 000 afghanische Staatsbürger nach Großbritannien übersiedelt worden sind. Rund 600 Personen, die auf der geleakten Liste stehen, halten sich laut Regierungsangaben noch immer in Afghanistan auf. 

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Healy sagte, er sei »nicht imstande zu sagen«, ob jemand aufgrund des Leaks getötet worden ist. Andere widersprechen. Rafi, ein ehemaliger Dolmetscher für die britischen Streitkräfte, sagte dem Radiosender LBC: »Die Daten waren entscheidend für den Feind, um diese Verbündeten ins Visier zu nehmen.« Er berichtete von Fällen, in denen ehemalige Mitarbeiter getötet oder gefoltert wurden. »Jetzt, wo dieses Leak bekannt ist, beginnen wir zu verstehen, wie die Taliban Zugang zu diesen Informationen hatten.« Laut Medienberichten planen mehrere hundert betroffene Afghanen, das britische Verteidigungsministerium zu verklagen. 

Auch Briten auf geleakten Listen

Problematisch für die Regierung ist auch die Tatsache, dass die Liste die Namen von über 100 Briten enthält, darunter Mitarbeiter des Auslandsgeheimdiensts MI6 und der Spezialeinsatzkräfte Special Forces. Die Konsequenzen für die Betroffenen sind schwer einzuschätzen – im schlimmsten Fall müsse der Geheimdienst davon ausgehen, dass Staaten wie Russland, China oder Iran im Besitz der Namen sind, schreibt der Sicherheitsexperte der BBC.

Laut dem Thinktank Institute for Government ist das Datenleak ein weiteres Indiz, wie chaotisch und unprofessionell das britische Krisenmanagement nach der Machtergreifung der Taliban abgelaufen ist, insbesondere die Evakuation von gefährdeten Afghanen. Der saloppe Umgang mit Daten und Sicherheitsprotokollen habe eine solche Panne viel wahrscheinlicher gemacht.

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