Kampf um »Madeleine«

Der Kaskelkiez wurde lange Jahre aufgewertet - eine Videothek kämpft nun gegen das Aus

  • Miriam Sachs
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Lichtenberger Kaskelkiez hat dörflichen Charme. Nah an Friedrichshain gelegen und doch fast wie eine Insel - von Bahngleisen umgeben und an der Rummelsburger Bucht angedockt. Noch vor einem Jahr leuchtete eine riesige rote Lampe in Form einer Zunge den Weg ins Viertel - die Installation unter der Bahnbrücke am Nöldnerplatz stammt aus den Nullerjahren, als das Viertel noch Sanierungsgebiet war.

Aus einer der ärmsten Gegenden Berlins wurde innerhalb weniger Jahre ein schmucker Kiez. Das europäische Förderprogramm Urban II garantierte niedrige Mieten und half den Läden zu überleben, die das Stadtbild auf ganz spezielle Weise prägten. Seit 2008 fließen keine Gelder mehr - und die Zungenlampe wartet vergebens auf eine neue Glühbirne.

Viele Künstler und Handwerker, die noch in den 90er Jahren Bruchbauten instand setzten, können sich die Mieten nun nicht mehr leisten, dafür gibt es neue Galerien mit Bürogemeinschaften im Hinterzimmer. Im April soll nun auch die winzige Videothek »Madeleine und der Seemann« weichen.

»Alle finden es nett hier, aber ich hab nur 168 aktive Kunden, die einmal im Monat für zwei Euro einen Film leihen«, sagt Besitzerin Anne Petersdorff. Mietschulden häuften sich an. »Im Dezember habe ich drei schlaflose Nächte lang überlegt und dann gekündigt.« Nach der Kündigung fand sie einen neuen Geschäftspartner und wollte die Kündigung zurückziehen. Doch zu spät.

Im Laden in der Kaskelstraße leuchtet eine Popcornmaschine. Regale, Couch und Sessel wirken wie aus einem Wohnzimmer. Im Laufe von acht Jahren konnte man hier immer mehr erwerben und erleben: Mit Softeis, Kellerkino, Secondhandkleidung und einem Paketservice konnte sich »Madeleine und der Seemann« über Wasser halten.

Der Einzelhandel im Kiez hat es schwer. Auch bei »Betten Schulz« eine Straße weiter lassen sich viele beraten - und kaufen dann doch im Internet. Die Apotheke an der Ecke musste schließen, kurz nachdem im nahen Victoria-Center eine Billig-Apotheke eröffnet hatte. Lichtblicke gibt es zwar auch, wie die Buchhandlung Paul und Paula - dort ist man sogar mit dem Umsatz zufrieden. Doch jede der vier Inhaberinnen hat hauptberuflich ein anderes Standbein. Eine sagt: »Wir wollten dem Kiez den Buchladen erhalten, als der Vorgängerladen schloss.«

Ist Gewerbe hier nur noch als Liebhaberei oder Ehrenamt möglich? Auf dieses Konzept setzt Janine Röhr. Sie ist Stammkundin der Videothek, ihre Kinder sind oft Testpublikum für Kinderfilme. Sie hat ein Ingenieursdi᠆plom, auf einer Nachbarschaftsplattform im Internet hat sie jedoch »Heldin« als Beruf angegeben. »Ich habe noch keine Heldentat vollbracht, also eher eine Heldin in spe«, sagt die 37-Jährige und lacht.

Sie will die Räume der Videothek übernehmen. Ein interkultureller Kiezladen soll entstehen, in dem alle mitmachen dürfen. »Auch Flüchtlinge sind willkommen, man könnte Sprachkurse anbieten«, sagt sie. Mit einem Spendenbeitrag von fünf Euro im Monat sollen Anwohner die Miete sichern und Kurse anbieten. Oder: »Man kocht gemeinsam. Das schafft Erinnerungen und schweißt zusammen.«

Den Laden will der Verein »Neue Helden« übernehmen. Nur zwei der neun Vereinsmitglieder wohnen in Berlin, die anderen in Bayern. Sie haben globalere Ziele wie Naturwälder pflanzen und den Regenwald retten. Veganismus als Lebensphilosophie ist in der Satzung verankert.

Alle sollen mitmachen dürfen - da werden die alten Helden der »Madeleine« skeptisch. Ein langjähriger Mitarbeiter, der nicht namentlich genannt werden will, sagt: »Man kann es nicht allen Leuten recht machen. Gefühle kochen hoch. Altkommunisten und Künstler-Egos reden sich in Rage, Biomuttis empfinden den Zucker im Softeis als Affront.«

Auch Petersdorff hat inzwischen ein neues Konzept für den Laden. Darüber will sie jedoch noch nicht sprechen. »Das sollen die Vermieter entscheiden, was besser ist.« Röhr erzählt, sie habe durch ihre Vorschläge im Café »Nadia+Kosta« in der Türrschmidtstraße bereits Ladenverbot erhalten. Wirken ihre Vorschläge auf Petersdorff wie Leichenfledderei? »Ein bisschen schon«, sagt diese. »Dabei sind wir doch noch da.«

Demnächst entscheidet die Wohnungsbaugesellschaft HOWOGE, ob die »Neuen Helden« Mieter werden oder ob man es noch einmal mit den alten Helden und einem neuen Konzept versucht. Es könnte aber auch einen lachenden Dritten geben.

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