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Rückkehr der Riots

Arbeitsniederlegung scheint in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung keine adäquate Kampfform mehr zu sein

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.« Karl Marx› berühmte, bereits 1845 in seinen Manuskripten über die »Deutsche Ideologie« verfasste Definition des Kommunismus als realem und an die jeweiligen historischen Voraussetzungen gebundenen Prozess der Emanzipation verweist bis heute auf die besten Momente der sozialen Bewegungen.

Vor allem in den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter wurden Organisationsformen hervorgebracht, die nicht einmal die Theoretiker der Bewegung hatten vorausahnen können. So geschehen etwa in dem in vielerlei Hinsicht das Rätesystem antizipierenden Delegiertensystem der Pariser Kommunarden von 1871, in dem Marx die »endlich entdeckte politische Form, ... um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen« erblickte und die sowohl seine Revolutions- als auch seine Staatstheorie nachhaltig veränderte. Und gerade an diesen historischen Scheidewegen sollten sich lediglich diejenigen Marxisten weiterhin als im revolutionären Sinne handlungsfähig erweisen, die diese neuen Aktionsformen zu analysieren und zu verallgemeinern suchten - und die bereit waren, sich auch von liebgewonnen Sichtweisen zu verabschieden, wenn die sich in der Praxis als falsch oder irrelevant erwiesen hatten.

Nirgendwo und niemals wurde dies so deutlich wie in den Massenstreikdebatten des beginnenden 20. Jahrhunderts, die sich vor allem innerhalb der deutschen, aber auch der internationalen Sozialdemokratie abspielten.

Seit Mitte der 1890er Jahre hatten sich, ausgehend von Belgien, zu großen Teilen spontan entstandene Streikbewegungen mit bis dahin ungekannter Verbreitung über einzelne Betriebe, Berufe oder gar Wirtschaftssektoren hinweg wie ein Lauffeuer durch die meisten Länder Europas ausgebreitet. Ihre Rezeption erweiterte den Horizont der beweglichsten »Theoretiker der Klasse des Proletariats« (Marx) in einem Maße, wie es das innerhalb der nur wenige Jahrzehnte zurückreichenden Geschichte der Arbeiterbewegung bis dahin nicht gegeben hatte - und führte die Mehrheit der Parteikader durch ihre Ablehnung derselben mittelfristig ins Lager von Kriegsbegeisterung und Konterrevolution. Nicht nur, dass erstmalig so etwas wie eine von von den Kämpfenden selbst ausgehende »Vereinheitlichung des Bewußtseins des Proletariats im Klassenkampf«, so die niederländische Linksradikale Henriette Roland-Holst, sichtbar geworden war. Auch die Zusammenführung wirtschaftlicher und politischer Forderungen - in den meisten Streiks war es auch um das allgemeine Wahlrecht gegangen - stellte eine bedeutsame Inspiration für die mit den immer stärker auf die Parlamentsarbeit konzentrierten Parteien der II. Internationale konfrontierten Linken dar.

Während die Mehrheit des Internationalen Sozialistenkongresses noch im Jahr 1900 Streiks als revolutionäres Mittel für »nicht diskutierbar« erachtete, war es in Deutschland vor allem Rosa Luxemburg, die in den Massenstreiks die »erste natürliche, impulsive Form jeder großen revolutionären Aktion des Proletariats« sah - quasi den Beginn der Geschichte der Autonomie des Proletariats gegenüber dem Bürgertum, mit dem es bis dahin noch in den Schlachten der bürgerlichen Revolution auf den Barrikaden gestanden hatte. In der russischen Revolution von 1905 schufen sich die Streikenden mit den Räten eigene Organe, deren Rolle, wie der Vorsitzende des Petrograder Sowjets und spätere bolschewistische Volkskommissar Leo Trotzki in seiner Bilanz formulierte, darin bestand, »in den revolutionären Kampf des Proletariats Einheit zu tragen« und alle bürgerlichen Institutionen zu ersetzen. In deren Folge wurde das Zweigestirn von Massenstreiks und Räten zur Grundlage des sich entwickelnden Kommunismus. In seiner in den dreißiger Jahren entstandenen Darstellung »Demokratie und Sozialismus« erkannte der marxistische Historiker Artur Rosenberg in den Radikalen zurecht auch diejenigen, die »in der Gegenwart des Proletariats schon seine Zukunft« zu antizipieren gewusst hätten.

Anders als die anarchistischen Generalstreik-Strategen, die seit den 1860er Jahren innerhalb der internationalen sozialistischen Bewegung immer wieder heftig mit der marxistischen Orthodoxie aneinandergeraten waren, beharrten die Kommunisten um Luxemburg, Trotzki und die Holländer Anton Pannekoek und Hermann Gorter darauf, dass diese neuen Formen »durch die Rolle des Proletariats in der kapitalistischen Wirtschaft«, so Trotzki, also die immer höhere Proletarisierung und Konzentration in den Fabriken, bestimmt seien. »So erweist sich der Massenstreik also nicht als spezifisches russisches, aus dem Absolutismus entsprungenes Produkt, sondern als eine allgemeine Form des proletarischen Klassenkampfes, die sich aus dem gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenverhältnisse ergibt«, bilanzierte Rosa Luxemburg in ihrer Schrift über »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften«.

Wenn dies bis in die 1970er Jahre die allgemeine Bestimmung der Kampfformen durch die sozialrevolutionären Strömungen blieb, die sich zunehmend auch gegen die die Rätemacht suspendierenden Bolschewiki und ihre späteren Anhänger richtete und die um 1968 herum eine Renaissance erlebte, so war dies nicht nur der Nostalgie, sondern auch der immer stärkeren kapitalistischen Expansion geschuldet. Was aber, wenn der Grad der Konzentration menschlicher Arbeitskraft keine aufsteigende Tendenz mehr darstellt, sondern diese sich zumindest in den Zentren der Akkumulation immer weiter im Abschwung befindet, wie dies seit den 1970er Jahren der Fall ist? Welche Widerständigkeit entwickeln die Proletarisierten dann? Und welche diejenigen unter ihnen, die nicht einmal mehr Jobs haben? Diese Fragen sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gestellt worden, ohne dass eine befriedigende Antwort bisher erfolgt sei. So sieht dies zumindest der US-amerikanische Literaturwissenschaftler und Occupy-Aktivist Joshua Clover und versucht sich in seiner Studie »Riot. Strike. Riot« an einer Geschichtsschreibung der Insubordinationen in der Geschichte des Kapitalismus, vor allem der vergangenen Jahre.

Die Antwort, die Clover auf diese Fragen formuliert, ist so naheliegend wie auch aktuell sichtbar: die Wiederkehr von Krawallen und Aufständen. Im Anschluss an Marx‹ »Allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« konstatiert Clover seit Mitte der 1970er Jahre einen zunehmend größer werdenden Überschuss an Arbeitskraft, das »Surplus-Proletariat« als neues zentrales widerständiges Subjekt. Während »bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts Streiks die dominante Form des kollektiven Kampfes im industriellen Kapitalismus« dargestellt und die Aufstände des vorindustriellen Kapitalismus abgelöst hätten, die sich zumeist um die Aneignung von Lebensmitteln drehten, komme nun das Zeitalter der Riots zurück - in den Worten Clovers und in Anlehnung an Marx: Riot (Strich). In einem Interview mit der Wochenzeitung »Jungle World« verwies Clover auf den global dramatischen Anstieg von Menschen, deren Arbeitskraft nicht mehr verwertet werde. »Das sind die Bedingungen, unter denen der Riot zurückkehren muss.« Denn Menschen würden nie aufhören, »um ihr Überleben zu kämpfen, und sie tun es dort, wo sie sind - auf dem Markt, der Straße, dem Platz«. Dagegen habe es seit dem britischen Bergarbeiterstreik der Jahre 1984/85 in den alten industriellen Zentren letztlich keine wirklich relevante und radikale Streikbewegung mehr gegeben.

Nicht nur die Platzbesetzungen der Nachkrisenjahre scheinen Clover auf den ersten Blick recht zu geben. Auch die Krawalle in den französischen Banlieues, den englischen Vororten oder von rassistisch Stigmatisierten in den USA lassen seine Perspektive als überaus aktuell erscheinen. Weniger nachvollziehbar ist aktuell der Optimismus, den der Kalifornier damit verbindet. Denn ihm zufolge verweisen die Aufstände durch die Integration der Zirkulationssphäre direkt auf die Commune jenseits der alten Konzepte von sozialistischen Übergangsgesellschaften. Während in der Epoche der Streiks immer »die Perspektiven der Arbeiterselbstverwaltung« hervorgebracht worden seien, in denen gesellschaftliche Planung, Arbeitsteilung und Staatlichkeit noch ihre Berechtigung gefunden hätten, brächten die Riots die Perspektive reiner »kommunistischer Aneignung« hervor. Inwiefern aber in den Riots auch die Perspektive einer humanen Produktion von Gütern aufgeworfen wird, von deren Aneignung er spricht, präzisiert Clover nicht. Dies ist die eine große Leerstelle in der fulminanten Studie. Die zweite betrifft die Riots selbst. Während etwa die französische Gruppe »Unsichtbares Komitee«, deren Büchlein »Der kommende Aufstand« vor einigen Jahren diese Perspektive am radikalsten aufgeworfen hatte, in ihrer Nachfolgeschrift »An unsere Freunde« in einer Art Fazit etwa der Platzbesetzungen etwas deprimiert feststellt, die Aufstände seien gekommen, nicht aber die Revolution, ficht die nirgendwo sichtbare sozialrevolutionäre Perspektive der Aufstände Clover nicht an. Vor über 100 Jahren hatte Rosa Luxemburg noch folgendes geschrieben: »Die frühere Hauptform der bürgerlichen Revolutionen, die Barrikadenschlacht, die offene Begegnung mit der Macht des Staates, ist in der heutigen Revolution nur ein äußerer Punkt, nur ein Moment in dem ganzen Prozeß des proletarischen Massenkampfes.« Immerhin also hatte sie auch der vergangenen Form der Kämpfe, wie auch der Existenz von Parteitaktiken, noch eine Berechtigung zugeschrieben. Ob, wenn man überhaupt die Perspektive teilen will, die wirkliche Bewegung einer reinen Aufstandsbewegung erfolgreicher sein wird als die letztlich gescheiterte der vorherigen Epoche, wird sich erweisen müssen. Mehr noch aber, ob ohne die Kämpfe in der Sphäre der Produktion, die Marx immerhin für die Basis der Gesellschaft gehalten hatte, Emanzipation überhaupt denkbar werden kann.

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