Stark wie das schwächste Glied

Bahngesellschaften haben oft Angst vor mehr Fahrgästen, weil die Infrastruktur fehlt

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Rund 78 Millionen Mitfahrer zählte der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) 2015 in den Regionalbahnen, 2,7 Prozent mehr als im Jahr davor, ein bundesweiter Trend. Zugpferd ist die Regionalexpresslinie RE 1 mit über 45 000 Fahrgästen täglich. Sie verbindet Frankfurt an der Oder mit Berlin, Potsdam und Magdeburg, großteils im Halbstundentakt. Der Bedarf ist groß, denn die Einwohnerzahl der Region wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt.

Da kommt es gerade recht, dass am Bahnhof Ostkreuz, am östlichen Rand der Berliner Innenstadt gelegen, ab Dezember auch Regionalexpresse halten werden. Bisher ist das Ostkreuz der bedeutendste Knoten im hauptstädtischen S-Bahnnetz. Über 100 000 Fahrgäste steigen hier täglich ein, aus oder um. Bald also auch Regionalexpressnutzer. Alexander Kaczmarek, Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn (DB) für Berlin, freut das: »Dann bekommt unsere Premiumlinie RE 1, die am stärksten genutzte Regionalverkehrsstrecke in Berlin, dort einen Halt.« Zusammen mit Kollegen stellte er am vergangenen Freitag im Bahntower die Bauprojekte 2017 in der Region vor. Der RE 7 wird künftig das Ostkreuz mit dem Flughafen Schönefeld und Dessau verbinden.

Cottbuser oder Wismarer werden dem bedeutenden neuen Regionalknoten jedoch nur aus dem Zug zuwinken können. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird ihre Linie dort nicht stoppen. »Eigentlich besteht der Wunsch, den RE 2 dort halten zu lassen«, sagt Renado Kropp auf Nachfrage. Er ist bei der Infrastrukturgesellschaft DB Netz zuständig für die Fahrpläne. Bremsen, Fahrgastwechsel, Anfahren - das kostet im Vergleich zur Durchfahrt drei bis vier Minuten. Beim RE 2 sei der Fahrplan »besonders kritisch«, so Kropp.

Der Grund für das Problem liegt fast 100 Kilometer entfernt. Und ist 70 Jahre alt. Damals ließ die So᠆wjetunion das zweite Gleis zwischen Berlin und Cottbus als Reparation demontieren. Von der Hauptstadt bis nach Lübbenau gibt es seit 2011 immerhin wieder eine Doppelspur. Allerdings auch nur, weil das Land Brandenburg im Jahr 2006 die Planungskosten vorstreckte und 2009 durch ein Konjunkturpaket des Bundes unverhofft Geld da war, das schnell verbaut werden musste. Für die restlichen 30 Schienenkilometer in die einstige Bezirkshauptstadt sahen die Verantwortlichen in Zeiten der Börsenbahn schlicht keinen Bedarf.

Hand in Hand machten der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) und die private Ostdeutsche Eisenbahn (ODEG) die Fahrplankatastrophe perfekt. Der VBB, weil er in der 2008 gestarteten Ausschreibung für die Strecke einen nur in der Theorie funktionierenden Fahrplan vorgab. Die ODEG, weil die neu beschafften Triebzüge praktisch keine Leistungsreserven haben, um bei Verspätungen ein paar Minuten wieder herauszuholen. Ökonomen nenne das »betriebswirtschaftliche Optimierung«: Brandenburg hatte Angst, zu viel von den knappen Regionalisierungsgeldern des Bundes auszugeben, die ODEG schaut auf die Rendite. »Schönwetterbahn« nennen das Eisenbahnkenner. Wenn alles optimal läuft, funktioniert das System. Also äußerst selten.

Warum nicht den Fahrplan einfach um ein paar Minuten verschieben? Leider gibt es dafür zu viele Flaschenhälse auf der Strecke. Am Bahnhof Königs Wusterhausen, erst kürzlich saniert, steht nur ein Gleis zur Verfügung. In Spandau, im Westen der Hauptstadt, kommen sich kreuzende Züge in die Quere. Im Havelland drängeln sich ICEs und mehrere Regionallinien auf zwei Gleisen. In der Not lässt der RE 2 nun die drei am schwächsten genutzten Bahnhöfe in der Lausitz einfach aus.

Ob die Bahn beim Regionalexpress RE 1 auch Angst vor mehr Fahrgästen habe? Kaczmarek lacht kurz auf, seine Stimme klingt gleichzeitig panisch und genervt. Denn der Berliner Senat möchte noch einen weiteren neuen Regionalbahnhof in Köpenick, ein paar Kilometer stadtauswärts. Die DB versucht nach Kräften, das Projekt aufzuschieben, wenn sie es schon nicht verhindern kann. Denn die Züge sind jetzt schon zu Spitzenzeiten überfüllt. Und für zusätzliche Wagen sind die Bahnsteige in Brandenburg zu kurz. Auch dort wurde auf Teufel komm raus optimiert.

Das alles ist exemplarisch für den Zustand der Bahn in Deutschland. »Man hat zu lange zu wenig investiert und kommt jetzt an die Grenzen der Logistik«, sagt Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband IGEB. »Die Bahn ist wie eine Kette. Sie ist so stark wie das schwächste Glied.« Und schwache Glieder gibt es sehr viele im Netz.

»Es scheitert gar nicht so sehr am Geld«, sagt Wieseke. Es fehle einfach der übergreifende Plan. Wo fehlen Weichen, wo Gleise, wo soll eine Strecke elektrifiziert werden? Um zu identifizieren, wo sich mit relativ geringem Mitteleinsatz deutliche Verbesserungen erzielen lassen, müsste ein deutschlandweiter integraler Taktfahrplan erstellt werden. »Stattdessen werden Milliarden Euro in zweifelhafte Prestigeprojekte wie Stuttgart 21 versenkt«, beklagt Wieseke. Auch an die Bundespolitik appelliert er: »Statt in Pilotversuchen Oberleitungen über Autobahnen zu spannen, sollte Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) Bahnstrecken elektrifizieren«, sagt Wieseke. »Es gibt ein funktionierendes Konzept für Elektromobilität«, ist er überzeugt. »Es nennt sich Eisenbahn.«

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