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Mehr Hochbetagte in Kliniken
Krankenhausreport: Stärkere Ambulantisierung und eine Aufwertung der Pflege wären hilfreich
Immer mehr hochbetagte Menschen müssen in Krankenhäusern versorgt werden. Von allen stationären Fällen waren 2005 13 Prozent über 80 Jahre alt, 2023 waren es schon 22 Prozent. Ihr spezieller Bedarf: Meist leiden sie an mehreren Erkrankungen gleichzeitig, viele haben eine Demenz oder sind körperlich gebrechlich, hinzu kommt ein hohes Risiko für Komplikationen. Der medizinische und pflegerische Bedarf ist groß. Zudem bleiben Patienten dieser Gruppe mit im Schnitt 8,1 Tagen fast doppelt so lange stationär wie Menschen unter 60 Jahren. Fakten dieser Art bilden den Ausgangspunkt bei der Vorstellung des Krankenhausreports des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido). Der 540 Seiten starke Band wurde am Mittwoch in Berlin präsentiert.
Auf die beschriebene Patientengruppe sind die Krankenhäuser jedoch nicht gut vorbereitet. Wie das in Zukunft besser gelingen kann, untersuchten eine ganze Reihe von Wissenschaftlern in dem Report. Das Problem ist allerdings nicht nur das fehlende Personal, vor allem in der Pflege. Baustellen gibt es im gesamten Gesundheitssystem: Etwa zu komplizierte Wege in der ambulanten Versorgung – vom Hausarzt zum Facharzt, dann zur Radiologie, wieder zum Facharzt, um endlich ein Rezept für Physiotherapie zu bekommen, bis zu dessen Einlösung dann wieder Tage vergehen. Oder Engpässe in der medizinischen Grundversorgung, vermutlich noch zunehmend durch eine Generation von Hausärzten, die kurz vor der Rente steht.
Auch in der Selbsteinschätzung bewerten Deutsche ihre Gesundheit als unterdurchschnittlich.
Trotz dieser Probleme leistet sich Deutschland im europäischen Vergleich die höchsten Gesundheitsausgaben, darunter höhere Kosten für Medikamente oder klinische Versorgung, als viele Nachbarn. Auf jeden Fall sind die deutschen Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit insgesamt, aber auch für die Pflege oder für Medikamente teils deutlich höher als in den meisten anderen EU-Staaten.
Für dieses viele Geld gibt es hierzulande aber nur eine Lebenserwartung knapp über dem OECD-Durchschnitt. Laut Clemens Becker vom Geriatrischen Zentrum am Uni-Klinikum Heidelberg, Mitautor des Reports, sind in Deutschland deutlich mehr Menschen ab 65 Jahren von chronischen Krankheiten betroffen als im EU-Durchschnitt. Auch in der Selbsteinschätzung bewerten Deutsche ihre Gesundheit als unterdurchschnittlich – und nehmen in dieser Frage einen Platz im unteren Drittel der OECD-Staaten ein.
Die Problembeschreibung ist nicht neu, der Handlungsbedarf riesig. Zudem kann sich in Zukunft weniger Pflegepersonal um wachsende Patientenkohorten kümmern: Die Altersgruppe 80 plus wächst von sechs Millionen 2025 auf 9,1 Millionen 2050. Der Pool derjenigen, die insgesamt als Arbeitskräfte in der Gesellschaft zur Verfügung stehen (Menschen zwischen 20 und 66 Jahren), umfasst aktuell 51,5 Millionen Menschen, 2050 werden es nur noch 45,9 Millionen sein.
Im Vergleich mit der Schweiz, den Niederlanden und Dänemark werden hierzulande deutlich zu wenig Hochbetagte ambulant versorgt, stellt Internist und Geriater Becker fest. Das sei insofern sinnvoll, weil »Ältere kränker aus den Krankenhäusern herauskommen als sie hineingegangen sind«. Bei oft ohnehin Gebrechlichen ist der Verlust von Muskelkraft und damit Mobilität schon nach wenigen Tagen Liegezeit hoch. Mit dem Verlust der gewohnten Umgebung verstärken sich auch kognitive Probleme.
Was machen die genannten Staaten anders? Becker verweist auf die höheren Ausgaben für Prävention etwa in Dänemark: »Dort wird zum Beispiel bei allen 75-Jährigen ein Hausbesuch zum Thema Prävention gemacht.« Zudem ist die Telemedizin schon etabliert: Jede dritte ärztliche Konsultation findet auf diesem Weg statt, in Deutschland sind es weniger als drei Prozent. In den Niederlanden wiederum hat jedes vierte Pflegeheim auch eine Reha-Station, auf der Menschen nach dem Krankenhaus verlorene Fähigkeiten zurückgewinnen können. Zudem gibt es bei unseren zehn Forschungszentren für Altersmedizin – und auch ein Primat der hausärztlichen Versorgung. In der Schweiz werden viel mehr als hierzulande ärztliche Leistungen an Pflegekräfte oder Physiotherapeuten delegiert.
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Im Krankenhausreport sind Anregungen dazu enthalten, wie sogenannte pflegesensitive Fälle erkannt – und dann eben schon im Pflegeheim oder zu Hause gut versorgt werden können. Demnach sind es vor allem 58 Diagnosen, die eigentlich keinen Krankenhausaufenthalt erfordern – wenn die Versorgung ansonsten optimal organisiert ist. Die häufigste Diagnose ist die Herzinsuffizienz, es folgen die Lungenkrankheit COPD und der Volumenmangel – hierbei sinkt die im Kreislauf zirkulierende Blutmenge ab. Das kann verschiedene Ursachen haben – manchmal wurde auch nur vergessen, ausreichend zu trinken. Ein Tropf mit einer Elektrolytlösung kann angebracht sein – aber das muss nicht zwingend im Krankenhaus passieren.
Wie die Vermeidung ambulant- oder pflegesensitiver Fälle in der Praxis gelingen kann, zeigt ein Projekt an der Berliner Charité, das noch bis 2026 läuft und 2022 startete. Unter dem Motto Stay@Home – Treat@Home (etwa: Bleib zu Hause, behandle zu Hause) wurde ein umfassendes Netzwerk aufgebaut, mit Beteiligten in der Charité und deren Notaufnahme, in Pflegediensten und von Hausärzten. Elementar ist hier die Telemedizin, aber auch ein digitales Gesundheitstagebuch für Notizen von Pflegebedürftigen und Angehörigen. Entstanden ist für die Beteiligten eine lückenlose Versorgung an allen Tagen und rund um die Uhr. Verschlechtert sich der Gesundheitszustand akut, wird das schnell bemerkt und kommuniziert. So kann frühzeitig noch im häuslichen Umfeld interveniert – und eine ungeplante Krankenhausaufnahme vermieden werden.
Weitere Möglichkeiten, die Versorgung mehr in ambulante Bahnen zu lenken, bietet die Krankenhausreform mit den dort eigentlich vorgesehenen Einrichtungen an der Grenze zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Auch andere Gesetzesvorhaben sollten schnell umsetzbar sein, darunter die Aufwertung medizinischer Berufe, was etwa AOK-Chefin Carola Reimann fordert. Gestaltungsspielraum ergibt sich auch durch große regionale Unterschiede etwa bei der Zahl der Krankenhausfälle der über 80-Jährigen. An der Spitze steht hier Nordrhein-Westfalen: je 100 Einwohner gab es 68 dieser Fälle im Jahr 2023, während es in Baden-Württemberg nur 50 Fälle je 100 Einwohner waren. Laut den Report-Autoren ist sehr wahrscheinlich, dass die Inanspruchnahme von Kliniken zum Großteil durch das bestehende Angebot bestimmt ist.
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