Egon Olsen war uneingeschränkt schuldfähig

Drei Leipziger beleuchten die Taten und Abenteuer der Olsenbande aus der Perspektive forensischer Wissenschaften

  • Heidrun Böger, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.

Gleich am Beginn des ersten Films müssten Egon, Benny und Kjeld eigentlich schon tot sein. Die drei Ganoven testen in einem Rohr mit Dynamit, ob die Sprengkraft für einen beabsichtigen Einbruch ins Museum ausreicht. Sie nehmen 100 Gramm davon, und es knallt mächtig gewaltig. Die drei - Egon und Benny noch im Rohr, Kjeld aus Angst herausgekrochen kurz davon entfernt - schütteln sich den Staub von den Kleidern und husten, nichts passiert.

»Unrealistisch«, sagt Rechtsmediziner Benjamin Ondruschka. 100 Gramm Dynamit legen Häuser in Schutt und Asche, die Drei im Rohr wären auf der Stelle tot. »Schon drei Gramm hätten für den Test völlig gereicht«. Benjamin Ondruschka (32) hat gemeinsam mit dem forensischen Psychiater Steffen Bratanow (45) und dem Juristen Denis van Ngoc (39) alle Folgen der zwischen 1968 und 1998 gedrehten Olsenbande-Filme aus forensischer Sicht untersucht. Sind die gezeigten Verletzungen realistisch? Wie sind die Verbrechen juristisch zu bewerten? Gibt es psychiatrische Krankheitsbilder, die eventuell sogar eine Schuldunfähigkeit bei einer Gerichtsverhandlung begründen?

Dafür haben die drei Leipziger über ein Jahr lang alle 14 Filme der berühmten Olsenbande gemeinsam gesehen, immer und immer wieder, gerne zwei pro Abend, insgesamt 22 Stunden Filmmaterial. Jeder machte sich Notizen zu seinem Fachgebiet immer unter dem Gesichtspunkt: Wie schaut der jeweilige Experte auf das Geschehen? Das Ganze floss ein in einen Vortrag für die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin, den Benjamin Ondruschka auf einem Kongress im Mai 2016 in Rostock hielt. Denn »so nah an Kopenhagen komme ich dienstlich doch nie wieder ran.« Außerdem verfasste die drei Experten einen Artikel für das »Archiv für Kriminologie«, die älteste Fachzeitschrift der Welt: »Das Phänomen Olsenbande aus forensischer Sicht.«

Für die drei ist das durchaus ernsthafte Wissenschaft, das zeigt die zwölfseitige Veröffentlichung in dem renommierten Fachjournal. Jurist Denis van Ngoc: »Natürlich hat die Sache auch Spaß gemacht.« Speziell Ondruschka ist großer Olsenbanden-Fan, wie so viele besonders im Osten der Bundesrepublik.

Doch zu welchen Ergebnissen sind der Rechtsmediziner, der Jurist und der Psychiater gekommen? Egon Olsen (Ove Sprogøe, 1919-2004), immer mit Melone, Zigarre und einem Hang zu Geldschränken der Marke »Franz Jäger«, wird geschlagen, vereist und einbetoniert. Er übersteht alles mit leichten Kratzern, Blut fließt nie. Im Laufe der Folgen hätte er zig Mal auf dem Sektionstisch der Rechtsmedizin oder zumindest in der Notaufnahme eines Krankenhauses landen müssen. Doch in den Filmen braucht er nicht mal ärztliche Hilfe.

So soll Egon in sechsten Film - »Der (voraussichtlich) letzte Streich der Olsenbande« - mit einbetonierten Füßen in einer Hafenanlage ertränkt werden, eine Art Waterboarding der 1970er Jahre. Dabei ist er etwa elf Sekunden unter der Wasseroberfläche, ehe er unsanft aus großer Höhe fallend auf dem Kai landet. Im Realfall wären schwerste Stauchungsfrakturen am Becken und den unteren Extremitäten zu erwarten. Egon Olsen hingegen klagt nicht mal über Beschwerden, sondern eröffnet umgehend seinen nächsten genialen Plan für den ganz großen Coup.

Im juristischen Sinne haben die drei eine »Bande« gebildet, das ist in Dänemark genauso wie in Deutschland strafbar. Sie begehen gemeinsam und wiederholt Einbrüche, schwere Bandendiebstähle, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Gefangenenbefreiung, Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs - mehrjährige Gefängnisstrafen wären für alle fällig. Es ging immer um Millionen und immer schief. Rechtsanwalt Denis van Ngoc: »Das sind keine Bagatelldelikte, die drei gehören hinter Gitter.« Allerdings wären die Straftaten mittlerweile nach deutschen Maßstäben verjährt.

Der Psychiater Steffen Bratanow wiederum bescheinigt Egon Olsen eine narzisstische Neigung. Allerdings sei er dennoch bei all seinen Taten als schuldfähig zu betrachten. Kjeld Jensen (Poul Bundgaard, 1922-1998) wiederum, sein beleibter Kumpel, zeigt in einer Folge eine dissoziative Störung, ohne dass diese zu einem straftatrelevanten Zeitpunkt aufgetreten wäre. Die Betroffenen regieren auf sehr belastende Erlebnisse mit der Abspaltung von Erinnerungen oder gar ganzen Persönlichkeitsanteilen. So lassen sich unerträgliche Erfahrungen ausblenden. Komplett psychiatrisch unauffällig bleibt Benny Frandsen (Morten Grunwald, geboren 1934). Die Bandenmitglieder treibt der Wunsch nach einem sorgenfreien Leben in Luxus und Überfluss, normalpsychologische Motive.

Die Resonanz auf Vortrag und Veröffentlichung in der Fachzeitschrift war groß. Inzwischen haben die drei Leipziger sogar schon eine Art Krimidinner in der Messestadt veranstaltet, das sofort ausverkauft war. »Dieser Ansturm hat uns überrascht.«

Fans der Olsenbande gibt es auch 19 Jahre nach dem letzten Dreh noch viele, mancher reiste zu dem Vortragsabend extra aus Schwerin und Pankow an. Doch leider sind keine Lesetouren geplant. Denn immerhin sind Ondruschka, van Ngoc und Bratanow berufstätig und haben Familie.

So bleiben nur gelegentliche Auftritte. Geplant ist zum Beispiel die Teilnahme an der nächsten »Nacht der Wissenschaften« in Leipzig. Dann geht es auch wieder um die Szene in »Die Olsenbande fährt nach Jütland«, in der Kjeld sich so erschreckt, dass er ohnmächtig wird und bewusstlos im Wasser treibt. Auf dem Rücken liegend! Rechtsmediziner Benjamin Ondruschka sieht es mit Grausen. »Bewusstlos im Wasser treibt man immer auf dem Bauch.«

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