Wer war Gauck - und wenn ja, wie viele?

Vom Überfremdungsangstversteher zum Xenophobiekritiker: eine Bilanz des elften Bundespräsidenten

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Bundespräsidenten werden an großen Worten gemessen. Richard von Weizsäcker sprach von der »Befreiung«, Roman Herzog kennt man für den »Ruck durch Deutschland«, Horst Köhler segnete den Neoliberalismus in seiner »Vorfahrtsregel für Arbeit«: Was der »Wettbewerbsfähigkeit« entgegenstehe, sei »nachrangig«. Von Christian Wulff bleibt der Islam, der inzwischen dazugehöre.

Was von Joachim Gauck bleibt, entscheidet die Geschichte. Und man kann nur hoffen, dass es nicht die Figur von der bewaffneten »Verantwortung« in nunmehr gerechten Kriegen sein wird, die in seiner Rede zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 anklang - und die man Monate später unheilvoll konkretisiert sehen konnte, als Gauck zum Gedenken an den ersten Schuss im Zweiten Weltkrieg eine Parallele zum neuen »Aggressor« in Moskau zog.

Die Putin-Hitler-Analogie, die der oberste Vertreter der Deutschen an diesem Tag insinuierte, führt den Blick zurück auf den »Privatmann« Gauck - auf die Zeit zwischen seiner Pensionierung bei der Stasiunterlagenbehörde im Jahr 2000 und seiner Wahl zum Bundespräsidenten vor fünf Jahren. Nachdem es 1999 nach entsprechenden Gedankenspielen doch nicht zu einer Präsidentschaftskandidatur Gaucks gegen Johannes Rau auf dem Ticket der CSU gekommen war, hatte der studierte Theologe sich zunächst erfolglos als Talkmaster versucht und firmierte dann als Publizist mit steilen Thesen.

So warf er sich für das »Zentrum gegen Vertreibungen« in die Bresche, Erika Steinbachs Lieblingsprojekt, damals noch rechtsdrehender als heute. 2003 schrieb Gauck, es sei »eben keine automatische Folge des verbrecherischen Angriffskriegs«, dass »Millionen vertrieben wurden«. Die Vertreibung wurzle in der wesensmäßigen »Brutalität« des Kommunismus. Dabei begann dieselbe etwa in der Tschechoslowakei 1945, der Kommunismus aber erst 1948.

Als ein Pilot zum Steinbach-Zentrum in der Presse durchfiel, wetterte Gauck in einer Talkshow: »Jetzt, wo wir unsere Hausaufgaben gemacht haben und wo wir - anders als alle anderen Nationen, die Schuld aufzuarbeiten haben - fast neurotisch auf der Größe unserer Schuld beharren, da muss es erlaubt sein, dass wir daran denken können, dass nicht alle Täter waren.« Drei Jahre später sagte er in einem Vortrag: Dass »das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird«, sei Symptom einer postreligiösen Absolutheitssuche. Die Vorboten der heutigen rechten Welle fand Gauck noch 2010 nachvollziehbar: In einer einst viel diskutierten Diskussionsveranstaltung zeigte er Verständnis für das »tiefe Unbehagen alteingesessener Europäer« gegenüber Muslimen und »Überfremdung« - »um einen Begriff zu verwenden, der in Deutschland verpönt ist, aber ich verwende ihn hier ganz bewusst«.

Schuldneurose, Holocaustreligion, Überfremdung: Kaum anders klingt heute die AfD. Es kann nicht verwundern, dass Gaucks Wahl zum Bundespräsidenten, wiewohl von der FDP eingefädelt, noch 2012 von der Rechten bejubelt wurde. Die »Junge Freiheit« etwa freute sich auf »positive Überraschungen« und auf »nüchterne Äußerungen« des Präsidenten zur Zuwanderung, die Gauck - anders als Wulff - nicht zu »verharmlosen« verspreche.

Doch sah sich die Rechte bald enttäuscht. Kürzlich erst nannte eben die »Junge Freiheit« Gauck »lächerlich« und identifizierte ihn als Einpeitscher eines »herdentriebartigen Konformismus« gegen das gesunde Empfinden eines »Großteils des Volkes, das er repräsentiert«. Gemeint war hier ein zweiter Ausspruch, der möglicherweise Gaucks Vermächtnis sein könnte: sein Wort vom »Dunkeldeutschland«, das er im Herbst 2015 auf diejenigen münzte, die Flüchtlinge drangsalieren oder deren Unterkünfte angreifen. Seither ist Gauck gerade im Lager der Pegidisten und AfDler eine Hassfigur.

Die Enttäuschung der Rechten ist verständlich. Dass gerade Gauck in solchen Kreisen heute mit so viel Leidenschaft als »Volksverräter« beschimpft wird, hat wohl auch mit diesem Schlenker vom Überfremdungsangstversteher zum Xenophobiekritiker zu tun. Verständlich wird dieser Umschwung eher auf persönlicher denn politischer Ebene. Selbst die wohlmeinendsten Biografen und Beobachter attestieren dem nun scheidenden Präsidenten ein hohes Maß an Eitelkeit und Narzissmus. So lässt sich eine Brücke schlagen vom Gauck der Nuller- zu dem der Zehnerjahre: Der selbstverliebte Ex-Prominente von 2003 oder 2006 reagierte mit Trotz auf den öffentlichen Ansehens- und Bewunderungsentzug. Doch kaum stand der Selbstverliebte wieder im Rampenlicht, lichtete sich seine Bitterkeit. Nicht zu übersehen ist dabei, dass Gauck sich in Sachen Flüchtlingspolitik bereits 2015 eine Hintertür offenließ: Er sprach nicht nur vom »Dunkeldeutschland«, sondern frühzeitig auch von den Grenzen der Aufnahmefähigkeit: »Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich.«

Das führt zu einem dritten erinnerungswürdigen Gauck-Wort: jene Selbstbeschreibung als »linker, liberaler Konservativen«, mit der er 2012 für sich warb. Ein linksliberaler Konservativer ist ein Ding der Unmöglichkeit. Was Gauck mit dieser Nonsensformel zum Ausdruck bringen wollte, war wohl sein Selbstbild als knorriger Rhetor, als Gewissen der Nation, moralisch unbestechlich und weit über der Parteipolitik stehend.

Doch im Amt hat er gezeigt, dass er nicht ganz zufrieden war mit seiner Rolle als Repräsentant. Zumindest einmal überschritt Gauck die Grenzen seines Amtes: Im Herbst 2014, als er vor einer von der Linkspartei geführten Landesregierung in Erfurt warnte, schickte er sich an, die Ergebnisse einer ihm nicht genehmen Wahl zu benoten: ein präzedenzloser Vorgang in der Geschichte. Gauck musste nach harter Kritik zurückrudern. Und sofort zeigte sich die Kehrseite des universellen Republikgewissens: der verletzte Narzissus. Er »respektiere« die Regierungsbildung, bekannte er sich zum Selbstverständlichen. Freilich nicht ohne einen unangebracht jovialen Zusatz: »Wir wollen ja nicht einfach Linkenbashing betreiben.«

Nicht unähnlich verhielt sich Gauck auf der Weltbühne, ihm selbst zufolge wohl das angemessene Habitat für einen Joachim Gauck. Das diplomatische Gewurstel der Regierung schien eine Nummer zu klein für einen wie ihn. Ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags bescheinigte ihm einen verfassungsrechtlich nicht unproblematischen Hang zu einer »Nebenaußenpolitik«. Mal mag man dieselbe gutheißen, wie im Falle des Genozids an den Armeniern, den er im Gegensatz zur Bundesregierung beim Namen nannte. Und mal mag man diese Haltung kritisch sehen, wie etwa in der Russland-Politik.

Dass Gauck als erster Bundespräsident in die Geschichte eingehen wird, der Moskau nicht besuchte, hat nicht nur mit der Politik der russischen Regierung zu tun. In seiner Autobiografie »Winter im Sommer, Frühling im Herbst« schildert er selbst das verhärtete Ex-Nazi-Milieu, in dem er aufwuchs. Wortreich klagt er noch im Rückblick über »klauende« Rotarmisten; Empathie für das, was Deutsche über Russland gebracht haben, sucht man vergeblich. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Gauck 2015 als erster Bundespräsident ganz ausdrücklich des Leids der sowjetischen Kriegsgefangenen gedachte. Dies ist, so muss man anerkennen, eine historische Tat des Joachim Gauck.

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