- Politik
- Seenotrettung
Italien setzt Sea-Watch-Flugzeug fest
Neue Eskalation gegen zivile Seenotrettung – Organisation spricht von Vorwand
Am Donnerstag informierte die italienische Luftaufsichtsbehörde ENAC die Crew der »Seabird 1« über die sofortige Festsetzung des zivilen Aufklärungsflugzeuges. Behauptet wird, der Betreiber Sea-Watch habe sie vor sechs Wochen nicht »sofort und vorrangig« über einen Seenotrettungsfall informiert. »Wenn wir auf unseren Aufklärungsflügen Menschen in Seenot entdecken, informieren wir selbstverständlich immer die Behörden, und auch am 30. Juni haben wir das natürlich sofort gemacht«, schreibt Sea-Watch in einer Stellungnahme. Es sei deshalb offensichtlich, dass es sich bei der Erklärung um einen Vorwand handele, sagt Laura Meschede, Sprecherin der Organisation zu »nd«.
Die Festsetzung erfolgt auf Grundlage des »Flussi-Dekrets«, das Italiens rechtsextreme Regierung im Oktober 2024 erließ. Es erweiterte das ein Jahr zuvor erlassene »Piantedosi-Dekret«, das es ermöglichen sollte, zivile Rettungsschiffe festzusetzen – nach der Neufassung wurde es nun erstmals gegen ein Flugzeug angewandt. Eine zweite Festsetzung könnte bereits bis zu 60 Tage dauern, beim dritten Mal droht die Konfiszierung des Flugzeugs – auch die Pilot*innen müssten mit Konsequenzen für ihre Lizenz rechnen.
Sea-Watch betreibt mit der Schweizer Organisation Humanitarian Pilots Initiative derzeit drei Aufklärungsflugzeuge im zentralen Mittelmeer. Neben der nun festgesetzten »Seabird 1«, einer zweimotorigen Maschine, die seit 2020 im Einsatz ist, fliegt die baugleiche »Seabird 2« seit 2022 Missionen. Als Reaktion auf das Flussi-Dekret brachten die Organisationen zudem vor einigen Wochen die kleinere »Seabird 3« in die Luft – sie wird in Partnerschaft mit dem deutschen Dachverband United4Rescue betrieben. Im vergangenen Jahr führten Sea-Watch-Flugzeuge 151 Einsätze durch und entdeckten dabei 221 in Seenot geratene Migrantenboote mit rund 11 000 Menschen an Bord.
»In den vergangenen Monaten haben wir aus unserem Flugzeug heraus immer wieder schwere Menschenrechtsverbrechen der italienischen Regierung dokumentiert«, betont Sea-Watch-Sprecherin Meschede. Ebenfalls habe die Organisation dokumentiert, wie von Italien und der EU ausgerüstete libysche Milizen auf Seenotretter*innen und fliehende Menschen geschossen hätten.
Sea-Watch kündigte an, rechtliche Schritte gegen die Festsetzung der »Seabird 1« zu prüfen. Auch im Falle beschlagnahmter Schiffe zogen die zivilen Rettungsorganisationen dutzendfach vor Gericht. Dort bekamen sie meist nachträglich recht – was die Behörden jedoch nicht von weiteren Beschlagnahmen abhält.
»Dieses Sterben im Mittelmeer muss aufhören. Dafür braucht es eine europäische Seenotrettungsmission.«
Lars Castellucci Menschenrechtsbeauftragter
Der Zeitpunkt der Maßnahme gegen das Rettungsflugzeug ist womöglich kein Zufall: Eine Woche zuvor hatte die »Seabird 2« einen dramatischen Seenotfall dokumentiert, bei dem unter anderem italienische Behörden tagelang untätig blieben. Das Aufklärungsflugzeug hatte am 28. Juli ein Boot in Seenot gesichtet und nach Angaben von Sea-Watch alle zuständigen europäischen Behörden alarmiert. Erst etwa sechs Stunden später traf demnach ein Frontex-Flugzeug ein, verließ die Szene jedoch wieder. Vier Tage lang soll das Boot hilflos auf dem Meer getrieben sein. Als ein Handelsschiff am 29. Juli schließlich die Rettung versucht habe, sei das Boot gekentert. Die Crew zog Überlebende und zwei tote Kinder aus dem Wasser.
Während des Kenterns war ein Frontex-Flugzeug vor Ort und warf eine Rettungsinsel ab. Diese Luftunterstützung habe »in einer verzweifelten Situation den Ausschlag gegeben«, erklärte Frontex später. Die italienischen Grenzbehörden hätten ein schnelles Rettungsboot von Lampedusa einsetzen können – taten es aber nicht, kritisiert jedoch Sea-Watch. Auch Sea-Watchs Rettungsschiff »Aurora« hätte helfen können, wäre es nicht wenige Tage zuvor durch das Flussi-Dekret im Hafen von Lampedusa blockiert worden.
Der deutsche Menschenrechtsbeauftragte Lars Castellucci hatte den Überwachungsflug der »Seabird 2« vom 29. Juli begleitet und wurde Zeuge des Kenterns. »Dieses Sterben im Mittelmeer muss aufhören«, erklärte er anschließend. »Dafür braucht es eine europäische Seenotrettungsmission, vor allem aber braucht es sichere und legale Flucht- und Migrationswege.« Europäische Rettungsschiffe hätten die Menschen in etwa drei Stunden erreichen können.
Die zentrale Mittelmeerroute gilt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten weltweit – allein seit Jahresbeginn kamen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration mindestens 953 Menschen ums Leben oder gelten als vermisst.
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.