Per Straßenbahn von Kehl nach Frankreich

Noch rollen nur Testwagen, aber in wenigen Wochen soll es im Viertelstundentakt per Tram über den Rhein gehen

  • Claudia Kornmeier, Kehl
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist wie vor 120 Jahren und doch ein Fortschritt. Das französische Straßburg und der kleine Ort Kehl auf der anderen Rheinseite werden wieder mit einer Straßenbahnlinie verbunden. Noch rollen nur Testwagen, aber in wenigen Wochen sollen Franzosen und Deutsche im Viertelstundentakt per Tram den Grenzfluss überqueren können. Vor einem Jahrhundert war das bereits Realität. »Endlich wieder da«, heißt es denn auch in der aktuellen Jahresschrift der 35 000-Einwohner-Stadt Kehl, die als Vorort zu der Elsassmetropole Straßburg mit ihren 270 000 Einwohnern gelten kann.

In den beiden Städten wird seit Wochen die Werbetrommel für die neue Tramverbindung gerührt. Grenzüberschreitende Straßenbahnlinien sind in Europa selten. Ende 2014 nahm zwischen Weil am Rhein und Basel in der Schweiz eine Tram den Betrieb auf. Ein weiteres binationales Vorzeigeprojekt ist die Saarbahn, die Frankreich mit dem Saarland verbindet. Zwischen Frankfurt (Oder) und dem polnischen Slubice fahren derzeit nur Busse. Eine Tramverbindung scheiterte bisher an der Finanzierung.

Auch die Städte Straßburg und Kehl waren schon einmal mit einer Straßenbahn verbunden. »Ab 1898 fuhr eine elektrische Tram über eine im Vorjahr neu gebaute Brücke bis ins Dorf Kehl hinein«, erzählt die Leiterin des Kehler Stadtarchivs, Ute Scherb. Straßburg gehörte damals zum Deutschen Reich.

Nach dem Ersten Weltkrieg war damit Schluss. Straßburg wurde wieder französisch. Auf der Brücke wurden die Wappen von Baden und Preußen ersetzt durch gallischen Hahn und Trikolore. Der Rhein markierte die Grenze - und die wurde streng kontrolliert. Für die Fahrgäste der Tram hieß es auf der Brücke nun Endstation, bitte alle aussteigen.

»Das Band war nach dem Krieg zerschnitten. Das waren keine sehr freundschaftlichen Zeiten«, sagt die Historikerin Scherb. Die Beziehungen waren so schlecht, dass sich der amerikanische Autor Ernest Hemingway bei einem Besuch wunderte, dass er kein Visum brauchte für einen Ausflug auf die andere Rheinseite. In einem Zeitungsartikel von 1922 beschreibt er, wie er auf der Brücke aussteigen und die letzten Meter in »die hässliche kleine Stadt Kehl« zu Fuß gehen musste.

Laut der offiziellen französischen Geschichtsschreibung änderte sich daran in den folgenden Jahrzehnten nichts mehr. Doch das könnte eine etwas bruchstückhafte Erinnerung sein, meint die Straßburger Tageszeitung »Dernière Nouvelles d'Alsace« (DNA). Sie hat ein vergessenes Kapitel der Geschichte der Straßenbahnverbindung ausgegraben - aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Ein 84-jähriger Straßburger hatte den Journalisten erzählt, wie er in den 1940er Jahren sonntags nach der Messe mit seinen Freunden per Tram nach Kehl gefahren sei, versteckt im hinteren Teil der Bahn, um nicht beim Schwarzfahren erwischt zu werden.

Die Straßburger Tageszeitung schickte daraufhin ihren Archivar los und der wurde tatsächlich fündig. Ein Foto und ein deutscher Zeitungsartikel aus dem Jahr 1942 bestätigen die Kindheitserinnerungen des Straßburgers.

Warum sich in Straßburg niemand daran erinnern mag? 1940 hatte die deutsche Wehrmacht das Elsass besetzt, das später einer reichsdeutschen Zivilverwaltung unterstellt und mit dem Gau Baden zum neuen Gau Baden-Elsass zusammengeschlossen wurde. Eine Tramverbindung »unter dem Joch von Nazi-Deutschland«, schreibt die »DNA« und vermutet, dass dies dazu beigetragen haben könnte, dass das Kapitel in Frankreich in Vergessenheit geriet ist.

1944 war endgültig Schluss. Nach der Befreiung Straßburgs sprengten die Deutschen die Rheinbrücke, um die Franzosen am Überqueren des Flusses zu hindern. Bekanntermaßen erfolglos - die Franzosen schafften es auch so auf die andere Seite.

Das ist mehr als siebzig Jahre her. Künftig soll die Überwindung von Fluss und Staatsgrenze wieder ein Stück alltäglicher werden. dpa/nd

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