Schmalzstullen von Gleis 11

Auch im reichen München ist die Bahnhofsmission ein Seismograf der Gesellschaft - die Signale sind nicht gut

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 5 Min.

Draußen am Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs zeigt die Anzeigentafel den nächsten Zug an: M 79023 über Rosenheim nach Salzburg um 13.55 Uhr. Es ist ein wolkenverhangener Nachmittag und am Gleis 11 wird es noch zehn Minuten dauern, bis die Teestube in der Bahnhofsmission ihre Pforten öffnet. Manche wollen nicht mehr so lange warten. Eine Frau mit dunklen Haaren und braunem Anorak regt sich auf: Sie könne nicht mehr stehen, schimpft sie, und sie wolle was zu essen.

Zehn Minuten später ist es soweit. Nach und nach füllt sich die kleine Teestube. Ein schlichter Raum mit hellen Holztischen und Stühlen, an der Theke eine große Kanne mit Tee, Plastikbecher und Schmalzbroten. »Manchmal habe ich das Gefühl«, sagt Sozialarbeiterin Gerrit Kaut, »dass einige nur von unseren Broten leben.« 100 Laibe werden hier pro Woche verteilt, ab und zu gibt es auch Obsttage.

Seit fast 190 Jahren gibt es die Eisenbahn in Deutschland - und seit 120 Jahren die Bahnhofsmission, ursprünglich als Zuflucht für junge Frauen gedacht, die in die Großstadt kamen. Im Laufe der Geschichte hat sich vieles verändert, geblieben ist die Aufgabe, zu helfen. »Wir sind die letzte Station«, sagt dazu Bettina Spahn. »Nach uns kommt nur noch die Straße.« Die gelernte Krankenschwester leitet den katholischen »Teil« der Bahnhofsmission, ihre Kollegin Simone Slezak den evangelischen. Wer nach Zahlen fragt, findet sie im Jahresbericht. Danach kamen 2015 rund 106 000 Menschen in die Bahnhofsmission, knapp ein Viertel davon waren Frauen. Am meisten vertreten waren Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten (86 Prozent) und Menschen mit Migrationshintergrund (80 Prozent).

Hinter der Statistik stehen die Schicksale. Da ist die Frau mit psychischen Problemen, die auf der Straße lebt und immer wieder in der Bahnhofsmission kommt. Für Hilfsangebote aber ist sie nicht zugänglich, bis es ihr körperlich immer schlechter geht, sie schließlich nicht mehr vom Stuhl aufstehen kann. Man bringt sie mit einem Taxi in ein Krankenhaus, dort wird sie eine Stunde später notoperiert. Nach Verheilung der Wunden soll sie das Hospital verlassen, sie aber weigert sich, verbringt zwei Tage und zwei Nächte in der Notaufnahme. Schließlich kann sie ein Arzt dazu bewegen, eine psychiatrische Einrichtung aufzusuchen.

Oder da ist die ältere Frau um die 80, die mit einem Rollator unterwegs ist, sie wohnt an der Schwanthaler Höhe. Sie selbst ist krebskrank, ihr Mann und ihre Schwiegermutter sind verstorben. Sie haben gemeinsam in der Wohnung gelebt. Jetzt geht die kleine Rente fast völlig für die Miete drauf, Die Frau will aber in ihren Räumen bleiben. Für das Essen bleibt da nicht viel.

Inzwischen ist es fast 15 Uhr geworden und die Teeküche hat sich gefüllt. Ausschließlich Männer sitzen jetzt an den Tischen, man hört viele osteuropäische Sprachen. Nachts sieht es hier völlig anders aus, da wird die Mission zu einem Schutzraum. Denn dann übernachten ausschließlich Frauen in der Teestube, auf Silikonmatten am Boden. 1422 Mal wurde 2015 diese Möglichkeit der Notübernachtung in Anspruch genommen.

Missions-Leiterin Slezak sagt: »Wir sind hier wie ein Seismograf der Gesellschaft.« Sie meint damit, dass hier Probleme eher sichtbar werden, auf die dann zum Beispiel die Medien erst später stoßen. Asyl suchende Flüchtlinge etwa kamen schon vor dem Herbst 2015. Und Missionsleiterin Spahn erklärt: »Wir erleben hier Dinge, wo man denkt, das dürfte es in München nicht geben.« Sie meint Menschen, die keine ausreichende medizinische Versorgung haben. Menschen, die durch das Auffangraster des Sozialstaates fallen. Oft schickt die Leiterin die Leute dann zu kirchlichen Krankenhäusern, die auch ohne Geld behandeln. Und Sozialarbeiterin Kaut sagt, das Wohnungsproblem in der Stadt werde immer schlimmer. Wer sich die hohen Mieten nicht leisten kann, fällt rasch in die Obdachlosigkeit.

Im Raum zwei der Bahnhofsmission werden inzwischen die Brote vorbereitet, Mitarbeiterin Jessica Wolf bestreicht Scheibe für Scheibe mit Schmalz. Draußen, um die Ecke im Flur und direkt gegenüber dem Eingang der Bahnhofsmission, sitzt der Mann von der »Sicherheit« auf einem schwarzen Schemel. Ihn gibt es, seit es im August 2015 zu drei sehr aggressiven und massiv bedrohlichen Vorfällen gegenüber Mitarbeitern gekommen war. Zwar wurde niemand verletzt, aber der Schock saß tief. »Wir sehen die aufkommenden Aggressionen vorwiegend in den immer schwieriger werdenden Rahmenbedingungen für unser KlientInnen« begründet, heißt es im Jahresbericht. So sei bezahlbarer Wohnraum nahezu unerreichbar, selbst der Toilettengang sei am Hauptbahnhof nicht kostenlos möglich. Der Münchner Stadtrat hat jetzt die Finanzierung der Wachleute bis Ende 2017 übernommen.

»Zu uns kommen Menschen, die entweder ganz am Anfang des Abstiegs stehen - oder schon ganz am Ende«, erklärt Bettina Spahn. Sie versteht die Bahnhofsmission als »Clearing-Stelle«. Das heißt, es gibt eine erste Beratung - und dann werden die Hilfesuchenden an die entsprechenden Stellen weitergeleitet.

Aber es gibt auch immer noch die »klassischen« Fälle für die Bahnhofsmission: Man hilft gebrechlichen Personen beim Umsteigen von einem Zug in den anderen, allein reisende Kinder werden in Zügen nach Köln oder Berlin von ehrenamtlichen Mitarbeitern begleitet. Davon gibt es rund 150, die den Missions-Betrieb rund um die Uhr aufrechterhalten, hinzu kommen zwölf feste Mitarbeiter. Finanziell getragen wird das alles vor allem durch die Landeshauptstadt, die Kirchen und durch Spenden.

Inzwischen ist es 16 Uhr geworden. Die Teestube macht jetzt wieder Pause, der Raum wird gesäubert. Jemand ruft an, will 150 belegte Brötchen spenden. »Klar, nehmen wir«, sagt Sozialarbeiterin Kaut. Dann stellt sich heraus, dass die Spende in Aschheim außerhalb Münchens abgeholt werden muss. »Nee, das geht nicht«, meint sie bedauernd.

Um 18 Uhr wird die Teestube wieder aufmachen. Und dann wird sie sich wieder füllen, mit Menschen, die hier bei einer Tasse Tee und einem Schmalzbrot Zuflucht suchen. Draußen ist auch der nächste der Zug nach Salzburg schon längst abgefahren. So wie für manche in der Bahnhofsmission der Zug ihres Lebens.

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