Vom beginnenden Zerfall einer Zivilisation

Im historischen Roman »Der Trost des Nachthimmels« reflektiert Dževad Karahasan zeitlose Fragen

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Gute historische Romane lösen sich von der Vorstellung, man könnte die Vergangenheit so darstellen, wie sie war. Sie sind nicht wie Ausstattungsfilme, wo es vor allem auf nachprüfbare historische Details ankommt. So hat der große bosnische Romancier Dževad Karahasan seinen Roman »Der Trost des Nachthimmels« zwar im elften Jahrhundert in Isfahan angesiedelt; auch sind Orte und Personen des Buches historisch belegt; doch das Interesse des Autors ist nicht auf die Rekonstruktion der historischen Ereignisse gerichtet, sondern auf eine erzählerische Reflexion von Fragen zu Liebe, Freundschaft und Politik. Dabei bestimmt die Politik immer wieder die Erzählung, denn dem Reich der Seldschucken, deren Sultan Malik Schah in Isfahan seinen Sitz hat, droht von allen Seiten Gefahr. Eine Zivilisation, die damals in Kultur und Wissenschaften eine ähnliche Rolle gespielt hat wie die USA heute.

Die Hauptfigur des über drei Teile angelegten Werkes ist Omar Chayyam. Der junge Mathematiker und Astronom ist von Malik Schah mit der Entwicklung eines neuen, genaueren Kalenders beauftragt worden. Um die dafür notwendigen Berechnungen durchführen zu können, lässt er von seinem Freund Feridun ein neues Observatorium bauen. Als der Vater von Feridun plötzlich im Sterben liegt, findet Chayyam heraus, dass der alte, angesehene Mann vergiftet worden ist. Zusammen mit dem Chef der Polizei und des Geheimdienstes versucht er den Fall aufzuklären.

Entlang dieser Kriminalgeschichte beginnt Karahasan von Liebe und Verrat, von philosophischen und religiösen Problemen zu erzählen. Und immer wieder von der politischen Situation, die vieles im Leben seiner Protagonisten bestimmt. Denn Feriduns Familie entstammt dem alten persischen Adel, der sich der Seldschuckenherrschaft untergeordnet hatte. Chayyams Förderer und Freund, der Großwesir Nizam al-Mulk, will deshalb die Aufklärung des Mordes nicht zu weit treiben, weil er einen politischen Mord fürchtet. Man spürt, dass Karahasan, der in Sarajevo Bürgerkrieg und Zerfall Jugoslawiens miterlebt hat, Sympathien für die weitsichtige Staatsführung des Großwesirs hat. Aber Nziam al-Mulk kann sich beim Sultan nicht mit seinen Vorschlägen nach einem effektiven Geheimdienst und der friedlichen Integration feindlicher Stämme durch Handelsbeziehungen durchsetzen. Stattdessen setzt der Seldschuckenherrscher auf Gewalt und Strafexpeditionen.

Im zweiten Teil des Romans geht es dann vor allem um Hassan-i Sabbah, dem späteren Anführer der Assassinen, die im Seldschuckenreich mit politischen Morden für Angst und Schrecken sorgten. Sabbah wird von Karahasan nicht von Anfang an als Terrorist geschildert, sondern als ambivalente Figur. Omar Chayyams alter Lehrer aus Nischapur hatte ihm den jungen Gelehrten empfohlen. Chayyam freundet sich mit Sabbah an und versucht ihn beim Großwesir Nizam al-Mulk unterzubringen. Der lehnt ihn jedoch ab.

Wenn die politische Entwicklung auch vieles in »Der Trost des Nachthimmels« bestimmt, es sind die Menschen, die die Probleme zu lösen versuchen, die Fehler begehen und die - wie der alte Omar Chayyam im dritten und letzten Teil des Buches - enttäuscht auf Freundschaft und Politik zurückblicken. Karahasan gelingt es, seinen Figuren Leben einzuhauchen und sie überzeugend in den Wirren der Zeit agieren zu lassen. Wie in »Die Brücke über die Drina« von Ivo Andric, dem jugoslawischen Nobelpreisträger von 1961, erzählt sein Buch von beidem: von den Menschen und von der geschichtlichen Entwicklung. Doch während für Andric die Brücke über die Drina das Symbol der Verbindung verschiedener Religionen und Kulturen ist, erzählt »Der Trost des Nachthimmels« vom beginnenden Zerfall einer Zivilisation.

Dževad Karahasan: Der Trost des Nachthimmels. Roman. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp, 724 S., geb., 26,95 €.

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