Mama! Mama Merkel!

»Hiob« nach Joseph Roth am Staatsschauspiel Dresden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Zentrum jedes Glaubens ruht Schönheit. Also Unverwundbarkeit. Also: Lüge. Ja, was schön ist, lügt. Und was ganz rein sein will, auch - Leben lässt sich nicht reinwaschen. Da hilft auch nicht, es über und über mit Gott einzuseifen. Mendel Singers Erfahrung. Dieser ostgalizische Jude ist das verkörperte Alt-Ehr-Würdige. Das Alte, das man nicht halten kann. Die Ehre, die man nicht retten kann. Das Würdige, das man nicht weitergeben kann. Mendel glaubt Gott - und wird ihn verfluchen. Am Ende, nein: fast am Ende. Denn ganz am Ende, da glaubt er wieder - und weiter.

»Hiob« am Staatsschauspiel Dresden, nach dem Roman von Joseph Roth aus dem Jahre 1930. Es ist die Geschichte dieses Lehrers Mendel, seiner Frau, seiner drei Söhne und seiner Tochter. Er lebt das Fromme gegen das Freie, also: lebt bespöttelt und bespuckt (die eigene Frau!) und beschissen. Die Tochter geilt mit Kosaken herum. Einer der Söhne wird Soldat. Der zweite Sohn geht nach Amerika. Die Familie folgt. Lässt den dritten Sohn, den behinderten Menuchim, zurück. Er ist das schlechte Gewissen der Singers. Einmal hatten die Brüder den Idioten in eine Folie gepackt, zugeschnürt und gezerrt, und die Schwester fragt: »Ist er tot?« Der beinahe Erstickte mitten in seinem Lebenselement: Er stört. Vorblende, zwei Theaterstunden später: Der Krüppel, geheilt, ist ein berühmten Musiker. Vater Mendel Singer verlor seine Familie - aber er bekommt durch das Wunder Menuchim alles und noch mehr zurück. Ein Märchen also: Leid und Entbehrungen sind nie sinnlos. Na ja.

Regisseur Nurkan Erpulat und Bühnenbildnerin Alissa Kolbusch sind aufgekratzt unromantisch. Rührig ungerührt. Passiert bei Roth eine Geschichte, lässt die Inszenierung das Geschehen Revue passieren. Rasant, choreografisch intelligent. Aber nicht versunken. Eher sprudelnd, sehr musikalisch, ein bisschen erläuterungsfleißig. Die Bühne: Eine Folienfläche hängt herab. Diese Schutzschmutzfolie wird später auf den Boden sinken, dahinter noch eine und noch eine, so trostlos sinken dem Menschen die Himmel, die nie hell waren. Horizont, das ist hier Wand, Wand, Wand.

Mathis Reinhardt gibt schmächtig und sperrig den Mendel Singer - mit dem schauspielerischen Mut zu statuarischer Unaufwendigkeit. Edel sei der Mensch, hilfreich und wirkungslos. Und doch kann sie strahlen: diese Ergebenheit, sich der Last des Lebens zu fügen. Wie zart, da er mit seinem Hut zaubert, um Menuchim zum Sprechen zu bringen. Reinhardt spielt den Lebensabwehrkämpfer, den Zusammenhalter, den Gräbenzuschütter - aus Not. Fortschrittskritik in Reinkultur: Geht mir weg, ihr Jüngeren, mit euren Moden! Als sei »Hiob« der Stoff für Zeiten, in denen keiner mehr weiter weiß. Aber trotzdem weiter macht. In absurdem Untergangsstolz: Nur Verzweiflung kann uns retten. Oder der Tod. Christine Hoppe als Mutter ist von tapferer Vitalität und stiller Größe - und dies just im Moment, da sie stirbt.

Die Kinder Mendels erzählen die gewöhnliche Menschenwelt. Unsere Welt. Und diese Welt, dieses eine Leben sagt: Gott, was soll uns jetzt Gott! Vergesst doch Gott. Vergesst Gebot und Gebet. Nehmt, was sich bietet. Und so fegt diese Jugend frei über die Bühne, rutscht traumbekifft durch Wasserlachen, wirft sich an die Folienwände, als seien es wogende Kornfelder. Sohn Jonas, der Soldat: Jannik Hinsch, den Patronengürtel um den nackten Oberkörper, tanzt, turnt eine martialische Pantomime der Salven und Bajonettstiche. Lucie Emons als Tochter Miriam schmiegt und räkelt sich gierig, zugedröhnt von Leidenschaft. Was ist Leben? Sich beherzt verschwenden. Also rät das dollarschicke, im Tanz zuckende Leben drüben in Amerika: Gebt der blöden Vernunft einen Drink aus! Füllt die Vernunft ab, verführt sie, legt sie flach, zeigt ihr, was ein Rausch ist! Warum sollen wir uns den Überfluss nicht schmecken lassen, nur weil andere noch immer kein gutes Wasser haben!

Der arme Hiob fragte einst, warum Gott ihn verlassen habe. Der arme Mendel Singer fragt das auch. Reißt wütend die Folienwand herunter. Bescheidenheit? Redlichkeit? Duldsamkeit? Ach! Ein Gott, der nicht hilft, ist kein Gott. Sagen die Kinder Mendels auch und sagen - sich los: Denn wenn du an Gott denkst, hört sich alles auf. Dann können wir einpacken. Wir wollen aber auspacken, nicht die Wahrheit über uns, sondern Einkaufspakete. Gute Worte können wir verschenken, aber unsere guten Anzüge wollen wir selber tragen. Und dazu nicht auch noch das Elend derer, die nicht mal ein Hemd haben. Und wir leben doch, bitteschön, in einer Welt, in der man sich wegen eines so schlichten Vorsatzes nicht gleich Gewissensbisse einbilden muss. Die Misere blüht, die Unbekümmertheit nicht minder.

Erpulat erzählt das Elend der verwehrten Sehnsüchte wie das der erfüllten. Diese Singers sind nicht von gestern. Und nicht von heute. Sie sind für immer. Flucht als geradezu alttestamentarische Bewegungsform der Weltbürgerschaft. Aber mögen Menschen fliehen, ausreisen: Dort, wo sie anlanden, ist in der Regel auch bald alles zu Ende. Christian Clauß als schlaksiger Sohn Schemarjah taumelt und tobt sich in eine Flüchtlingsklage hinein, die das Archaische auf gehetztem Atem hinüberpeitschen lässt ins jetzig Europäische. Die Pein, die da schreit, verkumpelt sich ein wenig peinlich mit dem letzten Schrei momentanen Kabaretts. »Mama! Mama Merkel!«

Daniel Kahn, der Musiker der Inszenierung, ist ein betörender Menuchim. Jiddischer Witz, jiddischer Schmerz. Große Augen in einem müden, wachen Kopf, der sich aufs Akkordeon stützt, und schon sieht der Idiot aus wie ein Weiser aus einer anderem Welt; zwei- oder dreimal zerren am Balg des Instruments, und der Luftlaut erzählt das Los des gehetzten behinderten Kindes. Menuchim und Mendel Singer - sie sind die einzigen, die sich treu bleiben. Und überleben. Der Wunderkern bei Joseph Roth.

Wunder? Erpulat lässt diesen Schluss als vielsprachigen heiteren Epilog durchwinken. Die deutsche Übersetzung halten die Spieler auf Blättern Papier ins Publikum, ein Blatt nach dem anderen flattert auf den Boden. Das geht alles rasend schnell. Wie ein Filmabspann, der zu hastig über den Bildschirm läuft. Ist aber nicht schlimm, sagt die Aufführung, denn ein Wunder muss sich heutzutage keiner mehr einprägen. Gibt es nichts Träumerisches mehr zu behüten? Kaum. Avantgarden haben das 20. Jahrhundert so verdorben, dass man sich über die Langzeitwirkung der Traumlosigkeit - auch auf dem Theater jüngerer Regisseure - nicht wirklich wundern muss.

Nächste Vorstellungen: 14., 29. März

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