Denken ohne Winkelmaß

Jan Wagner erklärt uns die Dichtung - und der Dichtung seine Liebe

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

»Beiläufige Prosa« sei in diesem Band versammelt. Das klingt kokett, denn der Untertitel suggeriert ja, der Autor habe diese gut zwanzig Texte, in denen sich Bildung ballt, in denen Sprache sprüht und Leidenschaft leuchtet, gleichsam im Vorübergehen geschrieben - gerade so, wie jemand einen Online-Kommentar in die Tasten haut. Oder ist hier etwas ganz anderes gemeint?

Jan Wagner: Der verschlossene Raum. Beiläufige Prosa.
Hanser. 270 S., geb., 22 €.

Welche Bedeutung Jan Wagner dem Beiläufigen beimisst, welche Geheimnisse er also gerade den unscheinbaren Dingen zu entlocken weiß, die andere arglos links liegenlassen, hat er als Dichter vielfach bewiesen. Für seinen Gedichtband »Regentonnenvariationen«, der von dieser Kunst des Hin- und Hineinsehens beispielhaft zeugt, wurde Wagner 2015 als erster und bislang einziger Lyriker mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt. Wenn er die Sammlung seiner über die Jahre entstandenen Prosaarbeiten nun mit dem Attribut »beiläufig« versieht, weist das nonchalant darauf hin, dass er im Hauptberuf eben etwas anderes ist als Festredner, Anekdotenerzähler oder Essayist - so meisterhaft er all diese Tätigkeiten auch ausüben mag. Wagner ist Dichter.

Ein Großteil seiner zumeist aus spezifischem Anlass entstandenen Prosaarbeiten, so tief sie auch in ihren jeweiligen Gegenstand vordringen, lässt sich denn auch als Auseinandersetzung mit Wagners Handwerk, der Lyrik, begreifen. Mehr oder weniger offensichtlich entfaltet er in nahezu all diesen Essays, Erzählungen, Reden und Reise-Miniaturen seine eigene Poetik oder besser: Er faltet sie darin ein.

In der Dankesrede zum 2015 an ihn verliehenen Mörike-Preis etwa streift der Geehrte zwar mit schlafwandlerischer Sicherheit durch Leben und Werk des Namenspatrons, glänzt mit treffenden Textbeispielen und sprechenden Anekdoten aus dessen Biografie, er macht aber zugleich keinen Hehl daraus, dass ihn in Mörikes Wald am meisten jene Bäume interessieren, die im selben Boden wurzeln wie seine eigenen lyrischen Gewächse. Mehr noch: Es ist Jan Wagner in diesem wie in vielen anderen Texten - mögen deren Protagonisten nun Seamus Heaney oder Ted Hughes, Wulf Kirsten oder Peter Huchel heißen - darum bestellt, das Wesen der Poesie als solcher herauszuarbeiten.

Zu diesem Wesen zählt für Wagner zweifellos die Nervenschärfe für das scheinbar Geringe, für das Beiläufige also, oder, um es mit seinen Worten zu sagen, für »das überraschende Funkeln in der Tristesse«. Ein Dichter, wie dieser Dichter ihn schätzt, vermag es, noch dem gewöhnlichsten Gegenstand ein solches Geheimnis zu entlocken, »dass die Grenze zwischen Kunst und Leben, die von so vielen für unüberwindbar gehalten wird, porös zu werden beginnt«. Indem die Lyrik den Nuancen der sinnlichen Welt in ungeahnter Weise auf die Spur kommt, offenbart sie also gleich zweierlei: dass nämlich nicht nur echtes Leben im Gedicht stecken, sondern sich auch wahre Poesie im Leben verbergen kann.

Immer wieder kommt Wagner auf die Kindheit zu sprechen, nicht nur auf seine eigene, auch auf die seiner oft englischsprachigen Dichteridole. Das kindliche »Staunenkönnen mit offenem Mund«, bekennt er einmal, sei ihm »seit jeher als eine der Grundlagen jeder Poesie erschienen«. Die vom nüchtern routinierten Erwachsenenblick abweichende Perspektive, jene Hingabe an das Verschobene und Verschrobene, an das Spiel und den Zufall schärfe den Möglichkeitssinn über die Lyrik hinaus. Wenn Wagner beständig »das nichtquadratische Denken« beschwört, »das Zulassen überraschender Stichstraßen und Irrwege, die Vorliebe nicht für Geradlinigkeit und Winkelmaß, sondern für irrationale Geistesarabesken«, dann redet er auch einem Leben das Wort, das sich von Sachzwang und Zeitdiktat nicht in die Knie zwingen lässt.

Als »Plädoyer nicht für das Faktische, sondern für den Traum« reklamiert er selbst jene Rede, die er im Sommer 2016 vor Saarbrücker Abiturienten hielt. Wohl wissend um den »Ernst des Lebens«, der den Absolventen drohend in den Weg gestellt wird, appelliert er auch hier an den Mut zur Unsicherheit, zum Schwanken, zum Schweifenlassen der Gedanken. Von seiner eigenen Erfahrung als Stipendiat in der Villa Massimo in Rom berichtet er an anderer Stelle, »dass die Zeit sich umso ertragreicher nutzen ließ, je gelassener man ihr zu verstreichen erlaubte … Es kommt nur auf die Qualität des Müßiggangs an.«

Es ist alles andere als ein fauler Mensch, der uns in Wagners soghaften Prosatexten vor Augen tritt. Aber es ist einer, der seltsam aus der Zeit gefallen scheint. So leidenschaftlich, wie man es heute von einem Mittvierziger kaum erwartet, bekennt dieser Autor sich zu seiner Liebe zur Dichtung und zu den Dichtern der Vergangenheit und Gegenwart, schreibt eine Hymne auf die Bibliothek, die sich zugleich als Kulturgeschichte lesen lässt, huldigt der inhabergeführten Buchhandlung und dem handgeschriebenen Manuskript.

Das Beste aber, was sich über Wagners Leidenschaften sagen lässt, ist, dass sie ansteckend wirken. Der zerbrechliche Zauber, der hier aufgerufen wird, überträgt sich auf den Leser. Neben dem imposanten Nischenwissen des Autors liegt das vor allem an dessen eleganter, gleichwohl unterhaltsamer Sprache. Wenn Jan Wagner etwa über die Begeisterung großer Poeten für den Kriminalroman sinniert und dabei peu à peu offenlegt, warum »das am meisten Beachtung findende literarische Genre mit dem abseitigsten, fast vergessenen, weit öfter zusammentrifft, als man annehmen sollte«, liest sich das selbst wie ein Krimi. Ein Gedicht!

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