Zwischen den Stühlen

Andreas Peglau entdeckt den Psychoanalytiker Wilhelm Reich neu

  • Werner Abel
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 14. Juli 1893 rekapitulierte Friedrich Engels in einem Brief an Franz Mehring: »Wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen.«

Andreas Peglau: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus.
Psychosozial-Verlag. 680 S., geb., 49,90 €.

Formell war es freilich ganz und gar nicht, was hier ausgelassen wurde: die Entstehung der Motive menschlichen Handelns, inklusive jener psychischen Strukturen, die hochgradig vor jedem Kontakt zur Arbeitssphäre geprägt werden - in Kindheit und Familie.

Diese Lücke hat niemand konsequenter zu schließen versucht als Wilhelm Reich (1897-1957), Psychoanalytiker jüdischer Herkunft, Sigmund-Freud-Mitstreiter und zugleich dessen Antipode, seit 1925 Mitglied in linken Parteien Österreichs, ab 1930 - nun in Berlin lebend - der KPD. Hier engagierte er sich an führender Stelle in der KP-nahen Sexualreformbewegung, avancierte nach Freud zum populärsten psychoanalytischen Autor deutscher Sprache. Am 10. Mai 1933 war er dann einer von nur vier Analytikern, deren Bücher in der »Reichshauptstadt« Berlin verbrannt wurden; kurz darauf trafen ihn mehr NS-Verbote als seine sämtlichen Berufskollegen.

Ebenfalls noch in jenem Jahr von Hitlers Machtantritt entzog die internationale Psychoanalytiker-Organisation Reich die Zugehörigkeit, weil er deren Anpassungskurs an das NS-Regime im Wege stand. Nahezu zeitgleich wurde er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, da er angeblich zu psychoanalytisch argumentiert und so vom Klassenkampf abgelenkt hatte.

Seine während der ausgehenden Weimarer Republik gewonnenen Erkenntnisse fasste Reich 1933 in seiner Massenpsychologie des Faschismus zusammen: eine Analyse psychosozialer Grundlagen der Europa prägenden »rechts«-autoritären Regime, des enormen Erfolgs Adolf Hitlers und des Versagens der Linken im Kampf gegen ihn. Bis heute sind Reich und sein Werk sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Linken weitgehend verdrängt - bedauerlicherweise.

Andreas Peglau, selbst Psychologe und Psychotherapeut, engagiert sich seit langem dafür, diese Verdrängung aufzuheben. Als wichtigstes Ergebnis jahrelanger Recherchen ist sein Buch »Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus« zu nennen. Es dürfte zu Wilhelm Reichs 120. Geburtstag am 24. März für historisch Interessierte und vor allem heutigen Berufskollegen von Reich eine ergiebige Erkenntnisquelle sein.

Zu der in ihrer Materialfülle einzigartigen Aufarbeitung sind 40 Extraseiten hinzugekommen. Sie informieren über Reichs - zeitweise wohl von der Komintern gelenktes - geheimes Wirken in der KPÖ und über seine Tätigkeit innerhalb des Einheitsverbandes für proletarische Sexualreform und Mutterschutz. Zudem über seine Freundschaft zu dem KPD-Abgeordneten Theodor Neubauer und seine Mitwirkung im Initiativkomitee zur Vorbereitung jenes 1932 in Amsterdam abgehaltenen Antikriegskongresses, dessen Organisation maßgeblich Willi Münzenberg oblag. Aber auch über die Verstrickungen von Psychoanalytikern in die psychologische Kriegsführung des »Dritten Reiches« und in die gegen Faschisten wie Kommunisten gleichermaßen gerichteten Aktivitäten von US-Geheimdiensten hat Peglau Zusätzliches zu berichten.

Man sollte sich nicht vom beachtlichen Umfang dieses Buches abschrecken lassen. Es sei hier versichert, dass es erstens prägnant und flüssig geschrieben ist. Zweitens handelt es sich um eines der wichtigsten Bücher zur Geschichte der Psychoanalyse, das deren Niedergang von einer sozialkritischen Theorie und Praxis zur medizinalisierten, angeblich »unpolitischen« Wissenschaft erstmals detailliert nachvollziehbar macht.

Und drittens bietet es die Wiederentdeckung eines herausragenden linken Sozialwissenschaftlers, dessen Werk von aktueller Brisanz ist: Reichs 1933 zu Papier gebrachten Erkenntnisse werden dringend benötigt, um den gegenwärtigen europäischen »Rechtsruck« nicht nur zu verstehen, sondern ihm auch angemessen entgegentreten zu können.

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