Beziehungsstreit auf Kosten der Kinder

Im Konflikt zwischen Ankara und Berlin fühlen sich viele Türkeistämmige hin- und hergerissen

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 5 Min.

Die deutsch-türkischen Beziehungen waren immer ganz besondere. Sie intensivierten sich zwar mit dem Zuzug Hunderttausender Arbeitsmigranten, denen später nach dem Putsch im Jahre 1980 auch politische Flüchtlinge folgten. Doch sind die engen Beziehungen älter. Schon die beiden Vorgängerstaaten, das Deutsche und das Osmanische Reich, pflegten intensive Kontakte. Reichskanzler Bismarck und Kaiser Wilhelm II war viel an der strategischen Allianz mit der Hohen Pforte in Istanbul gelegen. Der deutsche Einfluss auf die Türkei verstärkte sich spürbar in der Regierungszeit von Talat Pascha und Enver Pascha gegen Ende des Osmanischen Reiches.

Deutschlands Einfluss im Osmanische Reich erstreckte sich auf beinahe alle Bereiche - vom Militär bis zur Industrie. Die gemeinsame Niederlage im Ersten Weltkrieg zerriss das enge Band, ganz verloren ging es aber nie. Nach dem erfolgreichen »Befreiungskrieg« der Türken und der Republikgründung Anfang der 1920er Jahre knüpfte man wieder erste Bande.

Pläne, auch im Zweiten Weltkrieg an der Seite des faschistischen Hitlerdeutschlands als »Waffenbrüder« in den Krieg zu ziehen, wurden durch diplomatische Manöver der Briten und Franzosen verzögert.

Die Beziehungen zum faschistischen Hitlerdeutschland waren doppelbödig und kompliziert. Einerseits gewährte man Intellektuellen, Akademikern und Künstlern im Exil Zuflucht, andererseits pflegte man weiterhin wirtschaftliche und diplomatische Kontakte zum Hitler-Regime. Erst im Laufe des Jahres 1940 fror man wegen Versprechungen der Franzosen und Engländer die Beziehungen ein. Hitlers Reaktion war hart und er stoppte alle Rüstungsgeschäfte mit der Türkei.

Die militärischen Erfolge Hitlers in den ersten Jahren des Krieges stimmte viele Entscheidungsträger in der Türkei nachdenklich. Die Wehrmacht versprach der Türkei für eine Durchgangserlaubnis auf dem Weg zum Persischen Golf einst verloren gegangene osmanische Gebiete zurück. Doch dieses »attraktive« Angebot ließ den damaligen Ministerpräsidenten İnönü nur noch mehr zögern. Die türkische Regierung wartete mit ihrer Antwort und als die Briten den Süden des Iraks und des Irans besetzten, wurde die Durchgangserlaubnis endgültig verweigert. Nach der Niederlage Nazideutschlands übernahmen die USA den bestimmenden Part in der türkischen Politik. Doch die deutsch-türkischen Beziehungen gediehen wieder.

Der Zuzug der Gastarbeiter als Neuanfang

Am 30. Oktober 1961 wurde in Bonn ein Anwerbeabkommen unterzeichnet, da Deutschland nach billigen Arbeitskräften suchte. Die deutsch-türkischen Beziehungen erhielten somit erneuten Schwung. Seit diesem Zeitpunkt spielen die türkischstämmigen Arbeiter eine bedeutende Rolle in den bilateralen Beziehungen. Seither hat jede Regierung im Sinne ihrer eigenen Interessen die Sorgen und Nöte der oft unter schweren Bedingungen arbeitenden Industrie- und Metallarbeiter ausgenutzt, die Probleme aber nie von Grund auf gelöst. Im Laufe der Zeit ließen sich die »Gastarbeiter« in Deutschland nieder, neue Generationen wuchsen heran und wurden ein Teil Deutschlands. Für viele blieb die Türkei erste Heimat und Deutschland wurde die zweite. Die Türkei versuchte immer, diese zweite Heimat in eine Diaspora umzuwandeln. Die Ereignisse der vergangenen Wochen sind eigentlich nur die konsequente Fortführung dieses Gedankens.

Die Idee, im Ausland und insbesondere in Deutschland auf Wählerfang zu gehen, zielt darauf ab, die jüngeren Generationen, die zu einem festen Teil Deutschlands geworden sind, für die türkische Regierung (zurück) zu gewinnen. Man kann sagen, dass die Anstrengungen der Türkei, die Kontrolle über sie zu erlangen, unter der AKP-Herrschaft intensiviert wurden. So werden neue Behörden und Organisationen ins Leben gerufen und entsprechende Gelder bereitgestellt.

Wenn die AKP im Ausland für das Referendum wirbt und Deutschland sich dagegen stellt, dann geht es in Wirklichkeit darum, wer seinem politischen Einfluss auf die türkeistämmigen Migranten Geltung verschafft. Und dabei wird seit einiger Zeit mit harten Bandagen gekämpft.

Wir sind wie Kinder, die unter den Streitereien ihrer Eltern leiden

Für uns, die hier in Deutschland leben und einen deutschen oder türkischen oder gar beide Pässe besitzen, gleichen die Kämpfe einem Ehestreit von Vater und Mutter kurz vor der Scheidung. Zugespitzt gesagt: Noch vor dem Trennungsjahr streiten sich beide Elternteile bereits um das Sorgerecht ihrer türkeistämmigen deutschen Kinder. Für uns ist es unbegreiflich, warum ein derart lauter Streit über uns geführt wird. Deswegen gleicht unser seelischer Zustand dem eines Kindes, das zwischen dem Streit seiner Eltern hin - und hergerissen ist.

Den »Kindern« wird eine Lektion erteilt

Einige von uns glauben, dass das Land, aus dem wir stammen, im Recht ist, andere verteidigen das Land, in dem wir leben. Manch einer brüllt einfach nur noch: »Es reicht! Hört mit der Streiterei auf!« Doch keiner schenkt dem Gehör. Am schlimmsten betroffen von diesem Streit sind diejenigen, die sich aufgrund der doppelten Staatsbürgerschaft mit beiden Seiten verbunden fühlen. Also jemand wie Deniz Yücel. Wer die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, hat nicht die Möglichkeit, zu schreien: »Lasst mich in Ruhe!«. Denn beide Seiten haben sich an einen geheftet und erheben umso deutlichere Ansprüche.

Niemand glaubt daran, dass alle Stricke endgültig reißen und die Eltern sich scheiden lassen, nicht einmal die Eltern selbst. Wie so oft werden sie sich am nächsten Tag wieder ins gemeinsame Bett legen und ruhen. Doch was ist mit den Kindern, auf deren Rücken sie so erbarmungslos gestritten haben? Jeder Streit verletzt und hinterlässt tiefe Spuren. Aus diesem Grund sind die eigentlichen Leidtragenden der deutsch-türkischen Auseinandersetzungen die heute in Deutschland lebenden drei Millionen Türkeistämmigen. Leider wurde bis heute nichts aus den Streitereien gelernt. Jede Auseinandersetzung folgt dem bekannten Schema. Das einzige, was jetzt getan werden kann, ist, das gemeinsame Leben unter einem Dach weiterzuführen und den Streithähnen zu sagen: »Lasst uns in Ruhe!«. Andernfalls werden beide Seiten nicht damit aufhören, uns zu bedrängen, zu prügeln und in ihrem Würgegriff zu halten. Der jüngste Streit hat uns das deutlich vor Augen geführt.

Yücel Özdemir ist Deutschland-Korrespondent der türkischen Tageszeitung »Evrensel«.

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