Die Kraft des Sandkorns
Für Jewtuschenko
Mitte der neunziger Jahre sah ich ihn im Berliner Ensemble. Eine Buchvorstellung. Jewgeni Jewtuschenko, das weite anthrazitfarbene Hemd über der Hose, deklamiert, zelebriert; er schwingt die Arme, als wolle er nach wie vor auffliegen - jetzt noch, da doch in Moskaus Imperium so vieles Bittere endgültig aufgeflogen war. Ein Rezitationsschauspiel. Intendant Heiner Müller später: »Beglückend. Ich wusste nie, wer nach dem Tod von Ernst Busch den Azdak im ›Kaukasischen Kreidekreis‹ spielen könnte. Jetzt war es mir klar.« Und dann sagt Müller noch einen Satz, bei dem Jewtuschenko sich applaudierend erhebt: »Der Kommunismus ist von einer hässlichen, stupiden Macht zu einem Virus geworden - keiner weiß, wo er auftauchen wird.«
Jetzt blättern, in der sowjetischen Lyrik-Sammlung »Mitternachtstrolleybus«, 1965, Verlag Neues Leben. Der Schutzumschlag: Hinter regenverwischter Glasscheibe Stalins himmelversuchende Architektur. Das Leuchtende, mächtig Ragende: plötzlich nur noch ein Verschwimmen. Doch zugleich erinnert das Regentropfen-Foto an die heiter-kraftvolle Metapher vom Moskau, das den Tränen nicht glaubt ... Du schlägst auf und triffst gleich auf Jewgeni Jewtuschenko, übertragen von Volker Braun. Paarbildung par excellence - da übersetzen sich zwei Brodelnde in die deutsch-sowjetische Einheit: »Wir sind das Weltgericht Jugend«. Angeklagt ist das ältliche Bevormunden: »Es trennen uns Grenzen. Und Halbwahrheiten. Und Lügen./ Und Dämme aus Stirnen, hohl, vernagelt./ Und Entenschwärme, die aus Zeitungen fliegen.« Das Dichten riskierte jene Lippe, auf die sich das Leben gern beißt.
Damals las man nicht nur russische Dichter, es gehörte zum Erlebnis, sie zu hören, in großen Sälen, in Stadien gar, auf Platten. Der Poet als Prophet und Botschafter. An-Sprache, die alles ins Schöne und Erhabene oder geradezu schwärmerisch Traurige hinüberführte, hinüberfühlte. Und nicht abließ von der Grundfrage: »Meinst du, die Russen wollen Krieg?« Die Muse ein wildschönes Marktweib. Jewtuschenko, ein Geist, von Liebe zum Land erhitzt und zugleich von den stalinistischen Praktiken zerfrostet. Das ewige Wechselklima. Die Tapferkeit des Aushaltens. Im Dichter die trotzige Energie des obsiegenden Hintersinns. Der witzige moderate Ingrimm: »Sandkörnchen wären wir? Aber solche,/ mit denen man Kanonenrohre knackt!« Er protestierte gegen den Einmarsch der Sowjettruppen 1968 in Prag, gegen die Ausbürgerung Solshenizyns. »Ihn hat der Westen gerettet, mich die Liebe des sowjetischen Volkes«, so Jewtuschenko im nd-Interview. Und doch galt er nie als Dissident. Genosse und Geck. Patriot und Popartist. Rotfahniger Feuerfuchs, die Seele schwarz umflort.
»Aussteigen auf der stillen Station Sima«. Verse, romantisch, dynamisch: »Im Gras liegen, lachen/ vom schrägen Ufer ins Wasser sich stürzen/ und plötzlich begreifen: Wie wenig hab ich im Leben getan,/ wieviel kann ich im Leben noch tun.« 84 Jahre währte das Leben des großen Dichters Jewtuschenko, der am Sonnabend starb.
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