»Für uns gibt es keine proletarische Immunität«

Turbulent debattierten alle elf französischen Präsidentschaftskandidaten in der zweiten Fernsehdebatte

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor zwei Wochen gingen die fünf aussichtsreichsten französischen Präsidentschaftskandidaten in der ersten Fernsehdebatte noch relativ höflich miteinander um. Bei der zweiten Debatte am Dienstagabend war das anders. An ihr nahmen alle elf Kandidaten teil. Endlich wurde Klartext geredet. Mehrfach kam es zu einem erfrischenden Rededuell zwischen zwei oder drei Teilnehmern aus der Runde. Die dreieinhalbstündige Sendung wurde von 6,3 Millionen Menschen verfolgt. Das ist von Bedeutung, weil 40 Prozent der Franzosen noch nicht wissen, wem sie im ersten Wahlgang ihre Stimme geben werden.

In der Debatte wiederholten die »großen« Kandidaten Emmanuel Macron und Marine Le Pen, die jüngsten Umfragen zufolge mit jeweils 25 Prozent der Stimmen rechnen können, sowie der rechtskonservative François Fillon (17,5 Prozent), der Linksfrontpolitiker Jean-Luc Mélenchon (15 Prozent) und der Sozialist Benoît Hamon (zehn Prozent) ihre bekannten Positionen. Mélenchon zeigte sich dabei in großer Form, Fillon blieb relativ blass, währen Le Pen durch Provokationen aufzufallen versuchte.

Dagegen sparten die »kleinen« Kandidaten, der rechtsidentitäre Nicolas Dupont-Aignan, der unabhängige rechte Abgeordnete Jean Lassalle, Philippe Poutou von der Neuen Antikapitalistischen Partei und Nathalie Arthaud von der trotzkistischen Partei Lutte ouvrière sowie die ehemaligen hohen Beamten Jacques Cheminade und François Asselineau nicht mit verbalen Angriffen - zumal sie nichts zu verlieren hatten.

Philippe Poutou, Ford-Arbeiter in Bordeaux, bekam sogar Beifall vom Publikum - was eigentlich nicht erlaubt war -, als er Fillon wegen der Scheinbeschäftigung seiner Frau und seiner Kinder attackierte: »Je mehr man nachgräbt, umso mehr stinkt es nach Korruption und Betrug.« Worauf Fillon sehr dünnhäutig reagierte und in seine Richtung murmelte: »Ich hänge Ihnen einen Prozess an.« Der halblaut gesagte Satz war wohl nicht für das Fernsehpublikum gedacht, wurde aber von den Mikrofonen eingefangen.

Poutou ging auch Marine Le Pen an. Ihrer Partei, die für den EU-Austritt plädiert, hielt er vor, sie habe mit Scheinbeschäftigungen »die Kassen des Europaparlaments geplündert«. Und sie selbst, die sich als »Anti-System-Aktivistin« geriere, entziehe sich der Justiz »unter Nutzung des Systems, indem sie auf ihre parlamentarische Immunität pocht«. Das sei zutiefst verlogen, meinte Poutou. »Wenn wir vorgeladen werden, gehen wir hin. Für uns gibt es keine proletarische Immunität.«

Beim Thema Europa griff der ehemalige Wirtschaftsminister Macron scharf das Programm von Le Pen an. Er wurde dabei sogar von Fillon unterstützt, der der rechtsextremen Kandidatin vorhielt, dass mehr als zwei Drittel der Franzosen die EU und den Euro nicht aufgeben wollen. Damit falle ihr Wirtschaftsprogramm in sich zusammen. Um das Problem der rekordhohen Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, forderten die linksradikalen Kandidaten Poutou und Arthaud, Entlassungen einfach zu verbieten. Fillon will die Kosten für die Unternehmen weiter senken, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und so Arbeitsplätze zu schaffen.

Heftige Polemik gab es zum Thema Sozialdumping mit ausländischen Vertragsarbeitern. Le Pen sieht in der EU-Regelung eine »Bevorzugung von Ausländern« und will sie entsprechend der von der FN vertretenen »Nationalen Priorität« aufkündigen, ebenso wie Dupond-Aignan. Mélenchon indes will sie neu verhandeln, weil sie in ihrer jetzigen Fassung »das französische Sozialrecht aushöhlt«. Dagegen gab Macron zu bedenken, dass Frankreich auch 300.000 Vertragsarbeiter im Ausland hat. Für Asselineau lösen sich alle Probleme ganz von selbst, wenn Frankreich, wie er es vorsieht, aus der NATO und der Europäischen Union austritt, den Euro aufgibt und so »endlich seine nationale Souveränität wiedergewinnt«.

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