Dreckiger Ganges ist Wettbewerbsvorteil

Indiens Nichtregierungsorganisationen streiten mit der Regierung Modi darüber, was Fortschritt ist

  • Gilbert Kolonko, Delhi
  • Lesedauer: 4 Min.

In den drei Räumen von INSAF in Delhi herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Mit den Besuchern wechseln die Probleme, mit denen die Vertreter der indischen Dachorganisation von etwa 700 Nichtregierungsorganisationen (NGO) konfrontiert werden. Eine Lehrerin aus dem Bundesstaat Bihar wird von ihren lokalen Politikern erpresst, Geld für ihre Schule zu zahlen. Die Schule, in der die Ärmsten kostenlos unterrichtet werden, würde sonst geschlossen. Ein Gewerkschafter aus Bengalen berichtet über seinen Kampf dafür, dass der neue Tarifvertrag für die Teepflücker einen Tageslohn von über zwei Dollar am Tag garantiert. Der Aktivist S. Dhar kommt aus dem bengalischen Dorf Bhangar, wo sich die Bewohner schon seit 2013 gegen den Bau eines Kohlekraftwerks auf ihrem Ackerland wehren.

»Die Stimmung war aufgeheizt. Die Dorfbewohner und die Polizisten lieferten sich Scharmützel, als plötzlich Schüsse fielen - zwei Dorfbewohner wurden tödlich getroffen. Die Polizei bestreitet, die Schüsse abgegeben zu haben. Überall in Indien werden Menschen im Namen des öffentlichen Interesses von ihrem Land vertrieben. Wir versuchen, sie mit rechtlichem Beistand zu unterstützen.«

Wilfred d’Costa, Vorsitzender von INSAF, würde gern allen helfen. Doch er hat selbst Probleme: »Nun hat uns die Regierung auch noch verboten, ausländische Spenden anzunehmen.« Mit einem fatalistischen Lächeln fügt er hinzu: »Im Jahr 2013 hatten sie unsere Konten eingefroren, weil sich unsere Aktivitäten angeblich gegen das öffentliche Interesse richteten. Das Gericht sprach uns dann frei.« Auf seiner Website benennt INSAF das christliche Hilfswerk »Brot für die Welt« als seinen Hauptspender.

Was ist mit demokratischen Gepflogenheiten, gelten die in Indien nicht? Costa winkt ab. »Die Regierung erstattete bisher mehr als 200.000 Anzeigen gegen Antiatomaktivisten.« Es habe allein in Kudankulam Zeiten gegeben, da seien in einem Monat 6000 Menschen angeklagt worden, Krieg gegen den Staat zu führen - zehnmal mehr, als im umkämpften Kaschmir in der gleichen Zeit real Krieg führten. Tausende seien verhaftet, fünf Demonstranten erschossen worden.

Gegen INSAF versuche es die Regierung mit Paragrafen, nach denen einer Organisation, die ausländische Spendengelder erhält, die Lizenz entzogen werden kann, wenn gegen eines der Mitglieder ein Verfahren läuft. »Egal, ob derjenige später freigesprochen wird oder nicht.« Vor allem greife die Regierung INSAF wegen der Unterstützung für die indische Anti-Atom-Bewegung an, erklärt Costa. Die veralteten russischen Reaktoren im südindischen Kudankulam seien nur das eine Problem. »Die Regierung plant, bis zum Jahr 2060 die Kapazität der Atomkraftwerke auf 600 Gigawatt zu erhöhen. Das soll durch den Bau der neusten Generation der Atomkraftwerke, die Schnellen Brüter, erreicht werden.« Ungeachtet aller Gefahren wolle die Regierung mit allen Mitteln nicht nur militärische, sondern auch zivile Atommacht sein.

Den Einwand, ob es etwa besser wäre, wenn weiterhin 300 Millionen Inder ohne Stromanschluss blieben, hat Costa wohl bereits Dutzende Male gehört. Er zeigt ein Lächeln. »Wir sind nicht gegen Fortschritt, sondern für Nachhaltigkeit der Projekte«. Atomenergie sei nachweislich eine der teuersten Energien, und sie lade künftigen Generationen Kosten und Gefahren auf. Selbst das Argument, dass Atomkraft eine »saubere« Technologie sei, verpufft in Indien schnell. Denn parallel soll die Stromversorgung aus Kohle verdoppelt werden. »Die Luftverschmutzung in unseren Städten ist apokalyptisch«, sagt Costa. »Wenn Modi verspricht, in den nächsten fünf Jahren 100 GW Strom Kapazitäten aus Sonnenenergie zu gewinnen, sind wir mit ihm. Aber warum müssen es vor allem Großprojekte sein, die von ausländischen Konzernen finanziert werden?«

Die Regierung steht unter Erfolgsdruck, und für Menschrechts- und Umweltaktivisten wird es noch schwerer als bisher, wie der INSAF-Vorsitzende befürchtet. Im Jahr 2015 sind die Konten von Greenpeace Indien eingefroren worden. Amnesty International hat die indische Regierung auf die Fragwürdigkeit ihres Vorgehens hingewiesen. Wenn man bedenkt, dass gegen 34 Prozent der Abgeordneten der Lok Sabha, des indischen Unterhauses, Verfahren anhängig sind, darunter wegen Mord und Vergewaltigung, entsteht zwangsläufig der Eindruck, dass es hier um etwas anderes geht. »Alles, was dem schnellen wirtschaftlichen Wachstum im Wege steht, soll weggeräumt werden. Das war auch vor Modi nicht anders, nur drückt er jetzt auf Tempo«, setzt Costa hinzu. »Modi gaukelt vor, dass ein schnelles Wirtschaftswachstum die Lösung aller Probleme ist. Die Aktivisten, die auf die Folgen dieser Politik hinweisen, auf Schäden für Mensch und Natur, handeln nach seiner Logik gegen das öffentliche Interesse.«

Dabei sitzt der Premierminister genau genommen im Glashaus, wie Costa listig anmerkt. Weil Modi den Religiösen unter seinen Anhängern versprochen habe, zumindest den heiligen Ganges zu einem sauberen Fluss zu machen, verstoße er gewissermaßen ebenfalls gegen öffentliche Interesse. »Jeden Tag leiten mehr als 700 verschiedene Industrien 500 Millionen Liter ungeklärte Abwässer in den Ganges«, sagt Costa und fügt mit bitterer Ironie hinzu: »Ein eindeutiger Wettbewerbsvorteil für die heimische Industrie würde mit der Säuberung zunichte gemacht.«

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