Arbeit 4.0 - die »smarte« Form der Ausbeutung

In seinem neuen Buch stellt Matthias Martin Becker die soziale Frage der Digitalisierung im Betrieb

  • Marcus Schwarzbach
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine neue industrielle Revolution steht an - so suggerieren es die Stellungnahmen der Bundesregierung zur »Arbeit 4.0«. Der Siemens-Konzern sieht die »Industrie 4.0« in seiner digitalen Vorzeigefabrik in Amberg schon realisiert. Alle Bauteile lassen sich identifizieren, jedes Produkt wird digital erfasst. Einzelne Arbeitsschritte sind per Knopfdruck nachvollziehbar: Mit welchem Drehmoment wurden Teile zusammengefügt, bei welcher Temperatur hat die Maschine gelötet? Es geht dabei nicht nur um die Fabrik selbst, vielmehr sollen die gesamte Produktion und die vor- und nachgelagerten Prozesse miteinander vernetzt werden. Dazu gehören neben Maschinen und Robotern auch Logistik-, Lager- oder Planungssysteme.

Von einer »reibungsfreien« Produktion, »in der Menschen und Maschinen so leicht angeordnet werden wie die Symbole auf einem Bildschirm«, träumen die Unternehmen. Für den Journalisten Matthias Martin Becker ist diese Entwicklung nicht überraschend, denn »die Geschichte des Kapitals« ist »eine Geschichte der Rationalisierung«. »Stillstand kann es da nicht geben«, so Becker.

Er entwirft unterschiedliche Szenarios der Digitalisierung von Betrieben, denn im Moment ist noch nicht sicher, in welche Richtung sich die Organisation von Arbeit entwickeln wird. Im ersten Szenario müssen Arbeitende regelmäßig qualifiziert werden. Sie erhalten durch die Technik im Betrieb Informationen, zu deren Verarbeitung sie beispielsweise ein Smartphone nutzen. Trotz der Nutzung digitaler Werkzeuge, entscheiden die Beschäftigten eigenständig.

Bei der zweiten Variante steuert die Maschine den Menschen. Beschäftigte werden immer perfekter überwacht. Sie werden nur kurz angelernt und niedrig bezahlt. Doch bei unterschiedlichen Szenarios ist eines klar: Arbeitsplätze werden sich radikal verändern.

Doch nicht alles, was angedacht ist, wird auch Realität, das zeigen frühere Beispiele angeblicher technischer Revolutionen. »Der Kardinalfehler der neuen Automatisierungsdebatte besteht darin, technische Möglichkeiten mit tatsächlichen Arbeitsprozessen zu verwechseln«, schreibt Becker. Bereits in den 1980er Jahren wurde die computergesteuerte, menschenleere Fabrik der »Ganzheitlichen Produktionssysteme« (GPS) propagiert, Jahre später war von Computer Integrated Manufacturing (CIM) die Rede - der angekündigte Quantensprung blieb aber beide Male aus.

Ein Dilemma der Arbeit in digitalisierten Betrieben liegt bei den Anforderungen, die an die Beschäftigten gestellt werden: Menschen können von ihrer Anlage her weit weniger Daten verarbeiten und weniger Komplexität berücksichtigen als Maschinen - zugleich aber wird von ihnen erwartet, Fehler der technologischen Systeme schnell zu korrigieren. Dies können sie aber immer weniger, weil ihnen durch die Automatisierung eigene Erfahrungen mit der Prozesssteuerung und damit Kompetenzen verloren gehen.

Smartphones finden vielfältigen Einsatz im privaten und geschäftlichen Umfeld. Sie dienen als Navigationsgerät, Spielkonsole, Kommunikationsplattform und Informationsquelle. Die Industrie 4.0 wird diese Technik verstärkt im Betrieb zur Arbeitssteuerung einsetzen.

Mit der weiterentwickelten mobilen Assistenz kann der Mensch aber nicht nur mit der Produktionssteuerung interagieren. Dieselbe technische Errungenschaft kann der radikalen Kontrolle dienen, insofern Unternehmen sie zum Anlass nehmen könnten, auf eine Erreichbarkeit auch in der Freizeit zu drängen. Technisch möglich wäre eine totale Überwachung des Arbeitnehmers, der jederzeit ortbar ist und dessen Verhalten dokumentiert werden kann. Mit einer permanenten Verfügbarkeit, verbunden mit einem Gefühl der mangelnden Kontrolle über technische Prozesse, geht eine hohe psychische Beanspruchung einher, so Becker. Deshalb sollte mit dem Einsatz der Smarttechnik in der Produktion dringend eine Begrenzung der Arbeitszeit einhergehen, um den zunehmenden Stress zu kompensieren. Wie wichtig eine Debatte dazu ist, zeigt Beckers lesenswertes Buch.

Matthias Martin Becker: Automatisierung und Ausbeutung - Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus?. Promedia Verlag. 239 S., kartoniert / broschiert.

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