Wettlauf nach unten

Der Europarat warnt vor der »populistischen« Dynamik, ohne die Ursache zu verstehen: der ökonomische Liberalismus bedroht den politischen

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Demokratie ist in Gefahr. Die mangelnde Koordinierung der Flüchtlingspolitik habe zu einem »Chaos an unseren Grenzen« geführt, ein Nährboden für »Nationalisten und Ausländerfeinde«. Diese nutzten die Lage für »nationalistische und populistische« Zwecke. Zugleich schwinde das Vertrauen der Bürger in nationale wie europäische Institutionen. Traditionelle Parteien verlieren an Zustimmung. All das sei »äußerst beunruhigend«. So charakterisierte Thorbjörn Jagland, Generalsekretär des Europarates, die Lage in den heute 47 Mitgliedstaaten der Organisation - und zwar schon im vergangenen Jahr.

Auch 2017 hat der Europarat einen »Bericht zur Lage von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit« verfasst, der sich speziell des »Populismus’« annimmt. Das Fazit ist wiederum düster geraten: Unter dem Druck »populistischer« Bewegungen habe ein »Race to the bottom« begonnen, wenn »populistische« oder dafür offene Kräfte nicht schon an der Regierung beteiligt seien, heißt es in Jaglands Stellungnahme zum aktuellen Bericht. In diesem »Wettlauf nach unten« konkurrierten Mitte und Ränder um eine möglichst »harte Linie«, um diesen Stimmungen entgegenzukommen, besonders in Bereichen wie bei »Asyl sowie Land and Order«.

»Da läuft irgendetwas schief«

Wien. Die Sehnsucht vieler Österreicher nach einem starken Mann an der Spitze des Landes ist einer Umfrage zufolge sehr ausgeprägt. Dabei ist insbesondere bei den jüngeren Befragten in der Altersgruppe bis 35 Jahren der Blick auf die braune Vergangenheit häufig nicht mehr getrübt. 55 Prozent dieser Altersgruppe sind der Meinung, dass der Nationalsozialismus in Österreich nicht nur schlecht gewesen sei.

Trotz aller Ausstellungen, Initiativen, Gedenkstätten und Bemühungen im Unterricht komme das Thema offenbar nicht an, schlussfolgerte der Historiker Oliver Rathkolb am Donnerstag bei der Vorstellung der Umfrage, die er im Auftrag des österreichischen Zukunftsfonds begleitete. »Da läuft irgendetwas schief.«

Ohnehin wird ein totalitärer Politikertyp in der Alpenrepublik immer beliebter. 43 Prozent der Befragten halten es für »sehr« oder »ziemlich« wünschenswert, wenn ein starker Mann das Land regierte. Allerdings sei nicht jeder Befürworter einer autoritären Führung auch für einen Systemwechsel weg von der Demokratie, meinte Rathkolb. Wohl gelte dies aber für 23 Prozent der Bevölkerung, die ausgeprägte totalitäre Einstellungen hegten. Der Wert sei im Vergleich zu einer Umfrage vor zehn Jahren um 11 Prozent gestiegen. Der Historiker sieht in der Verunsicherung vieler Menschen durch die Globalisierung einen wesentlichen Grund für eine Hinwendung hin zu autoritären Politikern.

Dennoch bleibe für eine große Mehrheit der Befragten die Demokratie weiterhin die beste Regierungsform, wenngleich sie in den vergangenen zehn Jahren an Zuspruch verloren habe, resümierte Rathkolb. sot 

Als Resultat bestehe die Tendenz, Bestände von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit schleichend zu revidieren. So sei in »einigen Mitgliedsstaaten« zu beobachten, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr in das nationale Rechtssystem überführt würden. Meist sei die Unabhängigkeit der Justiz zwar gesetzlich verankert, sie werde aber nicht ausreichend umgesetzt. Dies öffne nationale Rechtssysteme für politischen Druck - was unter den Bedingungen jenes »Wettlaufs nach unten« besonders gefährlich werde.

Als besorgniserregend bezeichnet der Bericht Einschränkungen bei der Pressefreiheit. In 17 Staaten, in denen die Lage zuvor zufriedenstellend gewesen sei, mehrten sich Berichte über Angriffe und Drohungen. 40 Prozent der - freilich nicht repräsentativ - befragten 940 Journalisten gaben an, in den vergangenen drei Jahren ungerechtfertigte Einflussnahme erlebt zu haben. 69 Prozent der Befragten sprachen von »psychischer« Gewalt, 53 Prozent von Onlinebelästigung. 35 Prozent monierten staatliche Einschüchterung, 23 Prozent Festnahmen, Ermittlungsverfahren oder Ermittlungsandrohungen und Strafverfolgung. Fast ein Drittel sprach von Selbstzensur: Man benutze bestimmte Informationen nicht oder lasse von gewissen Themen die Finger. Die größte Gruppe der Medienvertreter, die sich einer gezielten Beobachtung ausgesetzt sahen, war türkischer Herkunft: fast 87 Prozent.

Problematisch sei auch, dass in den meisten Staaten »Hassrede« gegen Minderheiten - etwa Flüchtlinge - zwar offiziell verboten sei, aber kaum verfolgt werde. Speziell Muslime seien im Internet einem »präzedenzlosen« Niveau von verbalen Attacken ausgesetzt.

Als Strategie gegen den Populismus empfiehlt der Europarat eine Besinnung auf demokratische Standards sowie die Verbesserung demokratischer Institutionen. So lasse sich Vertrauen zurückgewinnen und dem »populistischen Narrativ« praktisch entgegenwirken.

Diese Erzählung, so der Bericht, reklamiere »das Volk« als homogene Einheit für sich und wolle Minderheiten verstummen lassen. Populismus sei wesensmäßig »illiberal«. In dieser Bestimmung liegt eine Schwäche des Berichtes. Er moniert zwar auch Verstöße gegen die Europäische Sozialcharta, etwa hinsichtlich der geschlechtlichen Lohngerechtigkeit oder ethnischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Selbst in reichen Staaten um sich greifende Tendenzen sozialer Polarisierung und eines Abstiegs breiter Schichten geraten hingegen kaum in den Blick.

Dabei sind diese für die populistische Spirale zwar keine hinreichende Erklärung, doch ist diese ohne diesen Faktor kaum zu verstehen. Der Liberalismus ist doppelgesichtig. Aktuell ist zu beobachten, wie die Folgen des ökonomischen Liberalismus den politischen bedrohen.

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