Schweine im Weltraum

»Der Jahrmarkt von Sorotschinzi« von Modest Mussorgski an der Komischen Oper Berlin, Regie: Barrie Kosky

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Fern im Dunkel ein russisches Volkslied. Nur Kerzen in den Händen der Chorsänger erleuchten sanft die Bühne. Dazu klingt ein nie gehörtes Instrument wie die Harfe eines Engels. Und dann ist der zarte Zauber auch schon vorbei. »Eimer, Büchsen, Mausefallen! Nudelhölzer, Salzheringe!« überschreien sich die Sänger.

Es ist Jahrmarkt im Dorf Sorotschinzi. Händler schreien, Besoffene torkeln, Frauen keifen, die neugekauften Nudelhölzer kommen wahrscheinlich gleich zum Einsatz. Auch gibt es zwei Liebespaare, einen vor dem Backofen fliehenden Truthahn, den Teufel Behemoth, der diesmal kein Kater ist, sondern ein Schwein. Und noch mehr Schweine, sehr hoch auf Stelzen, fast im Weltraum. Dann wieder ein Lied vom Feldherrn Tod, der die gefallenen Soldaten paradieren lässt. Selbst ein Liebesmahl wird angerichtet, man säuft, erzählt eine Schauergeschichte und tanzt wie losgelassen. Alles ist dabei; Barrie Kosky hat mit seiner Inszenierung des »Jahrmarkts von Sorotschinzi« eine kunterbunte Wundertüte ausgeschüttet. Dabei besteht das Bühnenbild aus gar keinem Bühnenbild, und auch die Kostüme deuten Folklore nur höchst dezent an. Farbig ist die Musik, die Idee des Stücks, die Phantasie der Inszenierung.

Die Geschichte stammt von Nikolai Gogols Erzählungssammlung »Abende auf dem Weiler bei Dikanka«. Das liegt wie Sorotschinzi in der Ukraine, früher »Kleinrussland« genannt. Es geschieht, was auf Dörfern so vorkommt. Ein Jahrmarkt, auf dem das junge Mädchen kein rotes Band bekommt. Eine Kneipe, in der sich ein Bauer besäuft. Ein junger Bursche, den die Stiefmutter seiner Angebeteten davonjagt. Eine Küche, in der ebenjene unbefriedigte Hausfrau Leckereien zubereitet, um ihren Liebhaber damit anzufüttern. Dies gelingt. Weiteres nicht, weil ihr Ehemann, der Säufer, zu früh nach Hause kommt.

Frust, Tristesse und Wodka allenthalben und dazu noch eine kollektive Angst vor dem Teufel. Der treibt jedes Jahr einmal sein Unwesen in Sorotschinzi, weil der Kneipenwirt vor Jahren des Teufels roten Kittel unrechtmäßig verkauft hat. In einem Albtraum des abgewiesenen Bräutigams - Höhepunkt des Ganzen - erscheint der Teufel nebst seinem üppigen Gefolge. In Schweinegestalt feiert die höllische Bagage ein infernalisches Erntedank- und Fressfest. Am Ende kriegt sich das junge Paar, und alle Dörfler tanzen den Hopak.

Grob geschnitzte Figuren, ein Nichts von einer Handlung, und doch steckt das ganze Leben darin. So sah es Modest Mussorgski, der den »kleinrussischen« Dorfalltag als mentales Gegengewicht gegen seine große historische Oper »Chowanschtschina«, als geistige Erholung brauchte. Beide Werke ging er gleichzeitig an, beide blieben Fragment. Es gab am Anfang des 20. Jahrhunderts ein halbes Dutzend Versuche, das vorhandene musikalische Material zu einem aufführbaren Werk zu ergänzen. 1881 war Mussorgski, erst 41-jährig, gestorben. Er war ein belesener Mann, philosophisch interessiert, liebenswürdig - den Eindruck gewinnt, wer seine Briefe liest. Er war gleichermaßen ein Trinker, Außenseiter, aufgeschwemmt, genialisch veranlagt, von seinen Exzessen früh zugrunde gerichtet. Er war ein Mann neuer, kühner Ideen, seine Musik klang seinen Komponisten-Freunden vom »Mächtigen Häuflein« ungehobelt im Ohr. Man meinte, ihm vor allem in der Instrumentation helfen zu müssen. Heute hören wir aus Mussorgskis Werk, nicht zuletzt dem »Jahrmarkt«, dass sich Schostakowitsch, vor allem aber Strawinsky daran geschult haben.

In der Komischen Oper spielte man die jüngste der erarbeiteten Fassungen, der Dramaturg Pawel Lamm und der Komponist Wissarion Schebalin schufen sie 1932 für das Moskauer Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater, später übrigens langjähriges Partnertheater der Komischen Oper. Darüber hinaus fand die Komische Oper für ihre Produktion noch zwei geniale musikalisch-emotionale Kontrapunkte: drei Stücke aus Mussorgskis Liederzyklus »Lieder und Tänze des Todes« und ein »Hebräisches Lied« von Nikolai Rimski-Korsakow. Ein Lied erklang solistisch, die anderen als Chorsätze mit der Begleitung des ukrainischen Instruments Bandura, einem zitherähnlich gezupften Lauteninstrument von metallischem Klang, ähnlich dem einer keltischen Harfe. Sehr eigen, sehr fremd.

Mussorgskis Musik zum »Jahrmarkt« ist kraftvoll direkt, auch satirisch grotesk, am Silbenfall der Sprache orientiert. Der Teufelstraum mit Schweinsköpfen ist zweifellos der aufreizendste Teil des Werkes, Mussorgski übernahm dafür seine alte Teufeliade »Eine Nacht auf dem kahlen Berge«. Mit Chor und Kinderchor wird das beliebte Konzertstück erst wirklich zum tobenden Hexensabbat. Hier ging auch Henrik Nánási mit dem Orchester der Komischen Oper so richtig aus sich heraus, an anderen Stellen hätte die Schärfe der Kontraste ruhig noch kräftiger ausfallen können. Schwung und Tempo ließen jedoch auch keine Wünsche offen.

Jens Larsen als trinkfreudiger Bauer Tscherewik und Tom Erik Lie als sein Gevatter artikulierten für ihren Wodkakonsum erstaunlich präzise und klangschön, die reine Lieblichkeit boten das junge Paar Mirka Wagner und Alexander Lewis. Als schimpfend kochende oder kochend schimpfende, jedenfalls fremdverliebte Bauersfrau Chiwrja glänzte Agnes Zwierko mit der pracht- und lebensvollen Hauptrolle.

Neben all den Haupt- und Staatsaktionen in den gängigen Opern ist der »Jahrmarkt in Sorotschinzi« ein heiteres Intermezzo im Spielplan, vom Publikum gern angenommen und sanft grundiert von mehr als einem Hauch postsowjetischen Maiglöckchenparfüms im Zuschauerraum.

Nächste Vorstellung am 13. Mai

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