Kapital-Lektüren: Die ersten 150 Jahre

Von Marx zur MEGA, vom Produktionsprozess zur Werttheorie. Ein kurzer Lehrgang von Michael Heinrich

  • Michael Heinrich
  • Lesedauer: 6 Min.

Vor 150 Jahren ist nicht »Das Kapital« erschienen, sondern dessen erster Band. Der Unterschied ist gewichtig. Im ersten Band geht es um die »Kernstruktur« der kapitalistischen Produktionsweise, Wert und Mehrwert sind hier zentrale Kategorien. Die »Gestaltungen« des Kapitals, wie sie an der »Oberfläche« erscheinen - Marktpreis und Profit, Zins, Bank- und Aktienkapital - werden im dritten Band behandelt, der 27 Jahre nach dem ersten erschienen ist.

Den ersten Band hatte Marx durchkomponiert: Er verbindet theoretische Analysen, historische Einschübe und detaillierte Schilderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der englischen Arbeiterklasse; unzählige Anspielungen auf Stoffe und Gestalten der Literatur, der Kirchen- und der Philosophiegeschichte stellen überraschende Verbindungen her und zeugen von Marx‘ enormer Bildung.

Der zweite und der dritte Band, beide von Friedrich Engels in mühsamer Arbeit aus halbfertigen, nachgelassenen Manuskripten zusammengestellt, sind erheblich trockener.

Dass bis heute der erste Band die Wahrnehmung des »Kapital« dominiert, liegt nicht nur an Lektüreschwierigkeiten. Marx kritisierte im »Kapital« nicht nur einzelne Theorien, sondern die gesamte ökonomische Wissenschaft. Dabei galt ihm die »klassische politische Ökonomie«, die von Adam Smith und David Ricardo begründete Schule, als die am weitesten entwickelte Gestalt dieser Wissenschaft.

Kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes begann jedoch ein grundlegender Paradigmenwechsel: Die klassische Schule mit ihrer Arbeitswertlehre wurde durch die Grenznutzenlehre verdrängt. Nicht mehr die objektiven Bedingungen der Produktion des Reichtums, sondern die subjektiven Nutzenschätzungen standen jetzt im Mittelpunkt. Von den neuen, »neoklassischen« Ökonomen wurde Marx zur Klassik gerechnet und genauso wie diese als wissenschaftlich überholt erklärt.

Insbesondere in Deutschland glaubt man deshalb bis heute an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, dass man sich nicht mit Marx beschäftigen müsse. Umgekehrt machten auch viele Marxisten in ihrer Kritik an der Grenznutzenlehre keinen allzu großen Unterschied zwischen der Klassik und der Marxschen Theorie - die Frontlinie verlief zwischen Arbeitswertlehre und Nutzentheorie des Werts. In der Auseinandersetzung mit der Neoklassik galt die Zirkulation als untergeordnete Sphäre, es wurde auf die Bedeutung der Produktion gepocht und »Der Produktionsprozess des Kapitals« war Gegenstand des ersten »Kapital«-Bandes.

Diese Dominanz der Produktionssphäre hatte Auswirkungen. Abgesehen von Rudolf Hilferdings 1910 erschienenem »Finanzkapital« spielte die Geld- und Kredittheorie in marxistischen Beiträgen auf Jahrzehnte hinaus keine Rolle. Auch die Krisentheorie blieb lange Zeit ziemlich produktionsorientiert: In der Produktion und nicht in der Zirkulation sollten die Widersprüche gefunden werden, die zur Krise treiben. Daher wurde das »Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate« mit solcher Vehemenz verteidigt, denn oft sah man in ihm die zentrale Krisenursache, so dass gefolgert wurde, ohne dieses Gesetz könne es auch keine marxistische Krisentheorie geben.

Im »Kapital« hatte Marx Produktion und Zirkulation aber keineswegs derart schroff entgegengesetzt, wie dies in großen Teilen der Rezeption geschah. Dies konnte man schon dem ersten Band entnehmen, wo Marx im vierten Kapitel festhielt: »Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebenso wenig aus der Zirkulation nicht entspringen.« Mit anderen Worten: Es muss aus Produktion und Zirkulation erklärt werden.

Vielleicht noch wichtiger war die Vernachlässigung grundlegender Differenzen zur klassischen politischen Ökonomie. Marx hatte sich ja keineswegs der Arbeitswertlehre der Klassik angeschlossen, seine Werttheorie formulierte eine fundamentale Kritik an deren Wertauffassung. Für diese Kritik stehen Marx‘ Betonung des Doppelcharakters der Waren produzierenden Arbeit (als konkrete Arbeit ist sie gebrauchswertschaffend, als abstrakte Arbeit wertbildend), der Wertform (der Wert benötigt eine selbstständige, von den Waren unabhängige Gestalt) und des Warenfetischismus (die Verselbstständigung der von den Menschen produzierten gesellschaftlichen Verhältnisse).

Besonders die beiden letzten Punkte spielten in der Rezeption des »Kapital« lange Zeit überhaupt keine Rolle. Aber gerade sie machen deutlich, dass Marx‘ »Kritik der politischen Ökonomie« weit über eine enge Fachökonomie hinausgeht. Mit Formanalyse und Fetischismus wird nach dem spezifischen Charakter einer Gesellschaft gefragt, in der sich die Einzelnen in einem so wichtigen Feld wie der Ökonomie nur vermittels eines Mediums, des Geldes, aufeinander beziehen und in welcher der gesellschaftliche Produktionsprozess, die gemeinsame Tat der Produzenten und Produzentinnen, von diesen aber nicht (gesamtgesellschaftlich auch nicht von den Kapitalisten) kontrolliert wird, sondern sich immer wieder wie eine unkontrollierbare Naturgewalt verhält.

In den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts dominierte Fachökonomisches die »Kapital«-Rezeption sowohl in den im Westen einflussreichen Darstellungen von Paul M. Sweezy, Ronald L. Meek oder Ernest Mandel als auch in den Lehrbüchern des Ostens. Dort, aber auch bei Autoren wie Mandel, kam noch eine historisierende Auffassung der Marxschen Theorie hinzu: Marx‘ »Kapital« analysiere die Entwicklung des Konkurrenzkapitalismus, Lenin die des Imperialismus.

Bereits im Vorwort von 1867 hatte sich Marx gegen solche Stadientheorien gewendet: »An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen«, sondern um die hinter dieser Entwicklung liegenden Gesetze. Der »letzte Endzweck« seines Werkes sei es, »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen«.

Eine grundlegende Veränderung der »Kapital«-Diskussion brachten die 1960er Jahre. Studentische Protestbewegungen, die sich sowohl gegen die erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse wie auch gegen den von den USA in Vietnam geführten Krieg richteten, brachten in vielen westlichen Ländern eine »neue Linke« hervor. Mit ihr verbunden waren auch neue »Kapital«-Lektüren, die wesentliche Anregungen sowohl aus den 1857/58 entstandenen »Grundrissen«, die erst seit den 1960er Jahren breiter rezipiert wurden, wie auch von unterschiedlichen philosophischen und politischen Strömungen erhielten. Nicht nur Fachökonomisches, sondern auch gesellschafts- und erkenntnistheoretische Gesichtspunkte wurden berücksichtigt und die Verengung und Simplifizierung der älteren Lektüren kritisiert.

So entstanden unter anderem in Frankreich eine dem Strukturalismus nahestehende (Louis Althusser, Etienne Balibar, Jacques Rancière) Lektüre, in Italien eine »operaistische« (Mario Tronti, Antonio Negri) und in Westdeutschland eine die Formanalyse betonende Richtung (Hans-Georg Backhaus, Helmut Reichelt). Auch im englischen Sprachraum begann in den frühen 1970er Jahren, angeregt durch die Übersetzung der »Grundrisse« und Isaak Iljitsch Rubins bereits in den 1920er Jahren entstandenen »Studien zur Werttheorie«, eine neue »Kapital«-Diskussion. Seit den späten 1970er Jahren wurden auch zwei neue Themen breiter diskutiert: Ob die Marxschen Analysen geeignet seien, Geschlechterverhältnisse bzw. die ökologische Krise in den Blick zu bekommen. Neue Lektüren waren aber nicht auf den Westen beschränkt. In der DDR und der Sowjetunion sorgte die Arbeit an der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), ebenfalls für eine neue Art der »Kapital«-Lektüre, die frühere Lesarten in Frage stellte.

Aus den neueren »Kapital«-Diskussionen ist die MEGA nicht mehr wegzudenken. So zeigte die Veröffentlichung der Marxschen Originalmanuskripte zum zweiten und dritten Band, dass Engels‘ Versuche, diese Bände lesefreundlicher zu gestalten, an einigen Stellen zu wichtigen inhaltlichen Verschiebungen geführt haben. Auch wurde die Unabgeschlossenheit aber auch die Breite des Marxschen Unternehmens noch viel deutlicher.

Die neuen »Kapital«-Lektüren unterscheiden sich nicht nur inhaltlich von den älteren, auch der soziale Kontext hat sich gewandelt. Die ehemals enge Verbindung mit den Organisationen und den führenden Personen der Arbeiterbewegung ist verschwunden; sozialdemokratische und linke Parteien wie auch die Gewerkschaften haben meist nur geringes Interesse an der Marxschen Theorie. Die neuen »Kapital«-Lektüren finden eher in einem akademischen Umfeld statt.

Die wechselseitigen Vorwürfe, dass die älteren Lektüren teilweise vereinfachend seien und zu einem holzschnittartigen Kapitalismusverständnis führten, dass die neueren Lektüren sich zuweilen in bloß akademischen Fragestellungen verlieren, haben einen richtigen Kern. Nötig ist aber heute nicht die Wiederholung der alten Kritiken, sondern die Suche nach einer erneuten Verbindung von sozialer Bewegung und einer auf dem »Kapital« beruhenden Analyse kapitalistischer Verhältnisse.

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