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Alles Leben kracht zusammen

»Die Welt nach Tiepolo« im Radialsystem V - Teil zwei: Europa

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Europa! Europa! Mutter der Kontinente. Ein hellsichtiges Riesenkunstwerk ist Anlass, darauf einen ganzen Konzertzyklus zu schaffen. Weiß gegenwärtige Musik mit dem Kontinent etwas anzufangen, der durch bürgerliche und Arbeiterkämpfe, durch Revolutionen und imperialistische Weltkriege geprägt wurde und heute auf hoher Stufe kapitalistisch verkommen ist?

»Die Welt nach Tiepolo: Europa«, zweiter Teil einer auf vier Folgen angelegten Konzertserie, konzipiert vom Kammerensemble für Neue Musik (KNM). Der Abend im Radialsystem V beginnt schlicht, um nicht zu sagen banal. Vier Musiker produzieren leis schwebende Klänge, indem sie, in der Hand jeweils Birne und Stöpsel, dieselben kaum merklich in einem Frequenzfeld gegeneinander verschieben. Dann setzen Barockvioline und Viola da Gamba ein und zwirnen vor sich her, bald darauf die Oboe d’Amore und Barocktrompete. Elektronik steuert die Klangabläufe. Das Stück der Argentinierin Ana Maria Rodriguez, Spezialistin für live-elektronische Performances, dauert 15 Minuten. Thematisch steht es dem noch zu beschreibenden Projekt fern. Desgleichen »Asche« des Franzosen Mark Andre für Bassflöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Inside-Piano. »Asche« ist eine Art Anti-Musik, sie prononciert Luftgeräusche, operiert mit Multiphonics, Sforzati, Flageoletts, Kratzgeräuschen etc. Zuletzt zelebrieren die Spieler mit Bogen und Instrument fünf Minuten Pantomime. Beide Stücke stehen dem Anspruch des Themas eher fern.

Das KNM-Projekt bezieht sich auf das große Deckenfresko, das der Venezianer Giovanni Battista Tiepolo um 1750 für die Residenz Würzburg gemalt hat. Die Fläche ist 600 Quadratmeter groß. Sie umgreift die damals bekannten vier Kontinente und zeigt in so grellen wie anmutigen Farben eine Landschaft des Untergangs. Das Fresko verbildlicht, was dem Globus noch bevorsteht, wenn die alte, exzessive, leierkastenartig sich preisende, auf Maximalprofit angelegte Wirtschaftsordnung nicht aufhört, die Menschen weiter in den Irrsinn zu treiben.

Ansatz für Musik? Oder zu hoch gegriffen? Die Tiepolo-Fresken veranschaulichen auch, was Musikern widerfahren kann. Die spielen im Bilde, wenn überhaupt, höchst fremdartig auf ihren Instrumenten Flöte, Trompete, Gambe, Lyra. Sie sehen sich bedrängt, eingekeilt, scheinen gehindert am Spiel. Rings um sie eine sterbende Landschaft mit Figurenwerk aus der Adels- und Vasallenkaste, den Bezirken der Engel und nützlichen Tiere. Traurige Pferde taumeln auf wankendem Grund. Vom Himmel fallen ramponierte Objekte und blutlose Wesen. Epoche der toten Augen. Gipsern diese Welt. Die Sonne - schön, aber voll Splitter - scheint, als würde sie weinen. Was noch lebt, ist ohne Festigkeit. Der gekrümmte Maler mit Palette bekleckst die Weltkugel mit Blut. Bücher liegen inmitten von Trümmern. Was scheren noch die Gewänder der Herren Fürsten? Ein Hund riecht am Plüsch wie am Arsch eines Rüden. Reich im Untergang, Chaos der Welt.

Es verlangt Kühnheit, darüber zu musizieren. Drei Stücke entsprachen dem KNM-Projektgedanken (Konzept Thomas Bruns). In Aktion abermals zwei Ensembles, das KNM und das Ensemble KomboÏ. Im abschließenden Konzertteil spielen sie zusammen. Zentral wieder Hugues Dufourt mit »L’Europe d’aprés Tiepolo« für Ensemble. Dufourt ist die Ursache allen thematischen Strebens. Sein Werk greift die Bilderwelt auf und die heutige Welt an. Es dauert an die zehn Minuten, bis das einleitende, klanglich extrem aufgeladene Erregungsgebiet in Zonen der Entspannung mündet. Hochgestimmte Kesselpauken schweigen fast nie. Sie dialogisieren mit dem Piano in tragischem Klangabtausch. Gespenstische Solocapricen fallen ein, Sirenenklänge etc. James Saunders’ »we tell each other what to do but always listen to you« produziert befehlsmäßig Geräusche und Klänge. Mehre Spielerpaare stehen einander gegenüber, vor sich Mikros und Tische, besetzt mit diversen Geräuscherzeugern: Pappschachteln, Holz, Spraydosen, Papier, Spielzeuginstrumente etc. Präzis die Befehle: Ton an/aus, Gerät an/aus, Geräusch an/aus, Prozess an/aus. Die Abfolge - grotesk - wird immer dichter. Hohelied auf den Geräuschirrsinn, der den Globus gepackt hat.

Im letzten Stück »Der Pianist« von Jani Christu spielen beide Ensembles in einem. Dirigent Stephan Winkler ist unmittelbarer Akteur. Die Performance des Werks gibt die brutal schallende Antwort auf das, was Tiepolo gemalt hat. Welt versinkt in Chaos, laut, qualvoll, mit körperlich höchstem Einsatz. Der Pianist spielt nicht, er ist die kleine, schwarze Figur, Synonym der Angst, die vor der Schallwelt sich versteckt und darin kaputtgeht. Aus allen Rohren schießt es. Bis der Tumult die Körper der Musiker selbst befällt. Alles Leben kracht zusammen.

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