Wilde Stadt, wildes Tempo

Milan Peschel inszenierte im Prater »Pünktchen und Anton« nach Erich Kästner

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Ungestüm, geradezu fiebrig gab sich Berlin am Anfang der 30er Jahre. Die Einwohnerzahl der Spreemetropole war auf über vier Millionen Menschen gewachsen. Von überall her strömten sie in die Stadt, um - anders als heute - die Mentalität von Dorf und Kleinstadt hinter sich zu lassen. Proletariat, Geldadel, Avantgarde ließen sich auf den rastlosen Rhythmus einer der damals größten Städte der Welt ein.

In Magdalena Musials Bühnenbild der neuen Produktion »Pünktchen und Anton« in einer Fassung des Jungen Staatstheaters Berlin - Theater an der Parkaue widerspiegeln im Hintergrund Ausschnitte aus Walter Ruttmanns Dokumentarfilm »Berlin - Die Sinfonie der Großstadt« dokumentarisch die Unrast. Mit seiner Inszenierung nach Erich Kästners Roman von 1931 nimmt Regisseur Milan Peschel dieses Tempo mit der ersten Szene auf. So entgeht er geschickt der Gefahr, mit einem Stoff aus vergangenen Zeiten ins Behäbige zu fallen.

Sprachlich schickt Peschel die Schauspieler sofort in den Hochgeschwindigkeitsmodus. Für Kinder ab acht Jahren heute kein Problem. Was sie in dem Tempo inhaltlich mitnehmen, wird je nach Auffassungsgabe unterschiedlich sein. Und schon springt auch das Spiel in ungeahnte Schnelligkeit, die einem Erwachsenen mit der Zeit die Luft zu nehmen droht und durchaus mal kurz die Frage aufwirft, wer wohl hinter Peschel her ist. Wahrscheinlich gibt es keinen Mittelweg. Wer mit will ins wilde Berlin von damals, muss sich eben sputen.

Die Geschichte der Freundschaft des in bürgerlichen Verhältnissen lebenden Mädchens Luise, genannt Pünktchen (Melina Borcherding), und des armen Jungen Anton (Tim Riedel) ist gut erzählt. Für ihre ersten Begegnungen hält Peschel dann doch einmal respektvoll inne, um nicht über die Zartheit der Gefühle hinwegzufegen. Gleiches gilt für die Situation in Antons Zuhause, wo der Junge sich liebevoll um seine kranke Mutter kümmert, oder wenn Pünktchen den Lehrer über Antons Situation aufklärt.

Gut erkennbar geht es Peschel neben dem Berlin-Gefühl um klare Linien zwischen Gut und Böse, Arm und Reich. Dagegen hält er - außer bei den Titelhelden - nicht starr an Rollen fest. Den Schauspielern Jakob Kraze, Elisabeth Heckel, Denis Pöpping, Kinga Schmidt, Johannes Schäfer, Birgit Berthold und Johannes Hendrik Langer sind zwar Charaktere zugewiesen. Daraus gleiten sie jedoch zeitweise hilfreich als Erzähler heraus.

Einmal zeigt der Regisseur witzig, dass jeder alles sein könnte, indem die Akteure anfangen, ihre Kleidung zu tauschen. Sie beginnen sich also auszuziehen - und brüskieren so das junge Publikum. Na, da ist es ja! Peschel hat es geschnappt.

Bekanntlich ereignen sich bei Theater für Kinder immer gleichzeitig zwei Vorstellungen. Eine auf der Bühne, die andere im Saal. Doch die jungen Zuschauer sind dabei aufmerksamer, als es den Anschein hat. So reagierten sie unwillig in der Szene, in der Pünktchen und Anton gemeinsam für dessen Mutter kochen. Es ist ja auch nicht erklärbar, warum in einer solchen Wahnsinnsgeschwindigkeit im Essen gerührt werden muss, dass alles aus dem Topf fliegt.

Über eine Stunde müssen die Schauspieler das Tempo halten, singen, tanzen. Und am Ende gibt es noch eine Überraschung für die jungen Zuschauer. Kästners Aussage dazu, was sie insgesamt mitnehmen können, wurde in der Textbearbeitung bewahrt: »Ob wirklich passiert oder nicht, das ist egal. Hauptsache, dass die Geschichte wahr ist! Und wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genauso, wie sie berichtet wird, wirklich hätte passieren können. Habt ihr das verstanden? Seht ihr. Wenn ihr das verstanden habt, habt ihr ein wichtiges Gesetz der Kunst begriffen.«

Der Prater in der Kastanienallee in Prenzlauer Berg ist als historischer Berliner Ort nebst der persönlichen Verbundenheit Milan Peschels zu ihm gut geeignet für die alte Geschichte, die so jung ist. Bis Ende September will das Junge Staatstheater noch diese Bühne als einen seiner Ausweichspielorte nutzen. Dann geht es endlich »nach Hause« an die Lichtenberger Parkaue zurück, um nach der umfangreichen Sanierung des Stammhauses die neue Spielzeit zu beginnen.

Nächste Vorstellungen: 21. und 22. Mai

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