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Sprachrohr der Überlebenden

Margot Friedländer zog aus den USA nach Berlin, um Schüler über die Judenverfolgung im Faschismus aufzuklären

  • Caroline Bock
  • Lesedauer: 5 Min.

Margot Friedländer ist 95 Jahre alt, sie trägt Schuhe und Jacke mit Tigermuster, dazu roten Lippenstift. Bevor sie anfängt zu lesen, holt sie ihre Kamera raus. Sie macht ein Foto von den Teenagern in der Aula des Gymnasiums am Stadtrand von Berlin.

Margot Friedländer ist Holocaust-Überlebende. Sie hat eine ungewöhnliche Geschichte: Nach Jahrzehnten in New York ist sie im hohen Alter nach Berlin zurückgekehrt und lebt dort. Noch immer tritt sie als Zeitzeugin in Schulen auf.

Die kleine elegante Dame bekommt ein Gartenpolster zum Sitzen. Der Geschichtslehrer sagt den Schülern, so eine Zeitzeugin zu hören, sei etwas Besonderes. »Sie sind eine der letzten Schülergenerationen, die dieses Privileg noch hat.«

Dann erzählt Margot Friedländer aus ihrem Leben. Es passiert, was manche Schülern gar nicht zutrauen: Die Zehntklässler hören zu, 90 Minuten lang. Nur einmal ist kurz Unruhe im Saal. »Da ist eine Riesenspinne!«, ruft ein Mädchen. Dann ist das Problem gelöst. Wieder gebannte Stille.

Der Titel von Margot Friedländers Memoiren erinnert an den Satz, den ihre Mutter hinterließ: »Versuche, dein Leben zu machen.« 74 Jahre ist es her, dass sie diese Botschaft bekam. Damals hieß sie noch Bendheim und war 21 Jahre alt.

Die jüdische Familie hatte ihre Flucht aus Berlin schon lange geplant. Dann hört Margot von den Nachbarn: Die Gestapo war da und hat ihren jüngeren Bruder Ralph geholt, später erfährt sie, dass ihre Mutter sich der Polizei stellte, um mit dem Bruder zu gehen.

Margot Friedländer bekam damals, im Januar 1943, die Handtasche ihrer Mutter, darin eine Bernsteinkette und ein Notizbuch. Die Sachen hält sie bei der Lesung in der Aula in die Luft. Auch den gelben Judenstern, der damals Pflicht war, zeigt sie den Schülern.

Sie hat 16 Leute, die ihr beim Untertauchen in wechselnden Verstecken helfen. »Sie sind Menschen, keine Helden«, sagt Friedländer. Im Untergrund lässt sie sich die Haare rot färben und sogar die Nase operieren, um nicht aufzufallen.

Dann, nach 15 Monaten im Versteck, geht es schief. Jüdische »Greifer«, die damals für die Nazis andere Juden aufspürten, erwischen sie auf der Straße, als sie aus einem Bunker kommt. Sie wird ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert - ein »Zwischenreich, nicht Leben, nicht Tod«.

Gegen Kriegsende sieht sie das Elend der Menschen, die aus Auschwitz kommen. Für sie wird da gewiss: Sie wird ihre Mutter und ihren Bruder nie wiedersehen. Mit ihrem Mann Adolf Friedländer, den sie aus Berlin kennt und noch in Theresienstadt heiratet, geht sie in die USA, wo sie in einem Kleidergeschäft und als Reiseagentin arbeitet. Mehr als 50 Jahre war er an ihrer Seite. »Wir hatten beide dasselbe erlebt, wir hatten beide dieselben Schmerzen, wir brauchten nicht darüber zu sprechen«, erzählt sie später. Ihr Mann stirbt 1997.

Auf eine Einladung des Senats und von einem Filmemacher begleitet, kehrt Margot Friedländer 2003 zum ersten Mal in ihre Heimatstadt zurück. Ihr amerikanisches Umfeld ist skeptisch, als sie sich Jahre später zum Umzug entschließt. Die Deutschen sähen sie vielleicht nur als nette alte Dame und fühlten sich durch sie weniger schuldig, ist ein Einwand, den sie hört. »Ich könnte mir niemals vorstellen, zu diesen Schweinen zurückzugehen«, sagt eine Cousine im Film.

Margot Friedländer sieht das etwas anders. Für sie gab es damals im Land der Täter auch »gute« Deutsche, die ihr halfen. In der Aula erklärt sie den Schülern, warum sie zurückgekommen ist: »Um mit euch zu sprechen und euch die Hand zu reichen. Denn ich möchte, dass ihr die Zeitzeugen sein werdet, die wir nicht mehr sein können.«

In der Aula fließen Tränen. Nach der Lesung stehen die Schüler Schlange und machen Selfies mit der alten Dame. Die Bücher sind schnell verkauft. Das Vorurteil, die Schüler von heute wollten vom Holocaust nichts mehr wissen, stimmt hier nicht.

War das ein typischer Schulbesuch? Eigentlich ja, sagt Margot Friedländer ein paar Wochen später in ihrer Wohnung im Berliner Westen. Von draußen hört man spielende Kinder. Drinnen die Möbel aus New York, Bücherregale, Ordner voller Danksagungen. Fotoalben, die ihr Freunde gemacht haben. Bilder von der Familie, von Freunden wie dem Musiker Max Raabe, beim Bundespräsidenten. Man schätzt sie. Ein Preis für Schüler-Projekte zum Holocaust und heutiger Erinnerungskultur trägt ihren Namen. Sie bekam das Bundesverdienstkreuz, bei der Berlinale-Eröffnung war sie auch.

Margot Friedländer wird ein bisschen »herumgereicht«, wie sie sagt. Aber sie hat im hohen Alter viele neue Freundschaften geschlossen. Opernpremieren, Brunch-Einladungen, Hochzeiten, Lesungen oder Katze Fienchen, die zum Tierarzt muss: Ihr Kalender ist für eine 95-Jährige sehr voll. Manchmal ist sie müde und fällt aufs Sofa.

Margot Friedländer wird oft gefragt, wie sie in einer Seniorenresidenz mit alten Deutschen wohnen kann - der Generation der Täter und Mitläufer. Da ist sie zurückhaltend. Sie will nicht wissen, was diese getan haben, oder bei etwas Jüngeren, was deren Eltern oder die Großeltern gemacht haben. »Denn ich will mir nicht sagen lassen «Wir haben es nicht gewusst», oder «Wir haben jüdische Freunde gehabt», oder «Wir haben geholfen». Oder, oder, oder.« Irgendwo seien die Millionen, die gejubelt hätten, hergekommen.

Sie weiß, dass es Leute in ihrer jüdischen Gemeinde in New York gibt, die ihre Entscheidung zur Rückkehr nach Deutschland nicht verstanden haben. Ihr Argument: »Was haben die Nachgeborenen damit zu tun? Soll ich nicht lieber ihnen meine Hand reichen, um ihnen zu zeigen, wir sind anständiger als ihr wart?« Den Umzug nach Berlin habe sie nie bereut.

An der Skalitzer Straße 32 in Kreuzberg erinnern heute Stolpersteine an den Bruder Ralph und ihre Mutter Auguste Bendheim. Auch Margot hat dort einen Stein. Darauf ist die Deportation nach Theresienstadt erwähnt. Darunter steht: »überlebt«. dpa

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