Röszke: An der Grenze, mittendrin

Zwei Jahre nach dem »Sommer der Migration« prägen noch immer Missstände die sogenannte Balkanroute

  • Lesedauer: 5 Min.

Dieser Bericht aus aktivistischer Perspektive über die aktuellen Proteste in Ungarn und Serbien ist Ergebnis eines Vor-Ort-Besuchs eines feministischen Kollektivs, dessen Einzelpersonen in unterschiedlichen antirassistischen Zusammenhängen aktiv sind.

Der kleine ungarische Ort Röszke liegt nah an der Grenze zu Serbien. Lange schon ist er aus der Berichterstattung verschwunden. Als wir dann Mitte April vom Aufruf zur Demonstration in Röszke hören, erinnern wir uns an die Bilder vom Sommer 2015 - der Sommer, als auf der sogenannten Balkanroute der letzte Grenzübergang Richtung Norden geschlossen wurde. Damals kam es zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und Geflüchteten, als diese versuchten den Grenzzaun mit NATO-Stacheldraht zu überwinden. In dieser Zeit machten sich auch aus Deutschland Konvois auf den Weg, um praktische Solidaritätsarbeit zu leisten. Die Demonstration dieses Frühjahr sollte an diese Ereignisse erinnern.

Als wir nach Röszke hineinfahren, führen uns ruhige Straßen zum Startpunkt der Protestkundgebung. Dort treffen wir auf rund 150 Aktivist*innen, unter anderem aus Italien, Kroatien, Österreich und Spanien. Vor Beginn der Demonstration sprechen der Pfarrer von Röszke, die Gruppe »Migszol« (»Migrant Solidarity Group of Hungary«), weitere Nichtregierungsorganisationen, linke Künstler*innen und Aktivist*innen.

Während wir gemeinsam durch den Ort in Richtung Grenzzaun laufen, werden Parolen wie »Nem kell a kerités, szabadság!« (»Wir brauchen keine Zäune, Freiheit!«) und »Vesszen a fasizmus!« (»Nieder mit Faschismus!«) gerufen. Sie richten sich gegen die faschistische Politik Ungarns, alle offenen Camps zu schließen und Asylsuchende in einem Container-Gefängnis nahe der Grenze festzuhalten. Kurz vor dem Zaun kommt der Demonstrationszug zum Stehen. Als sich hier vor fast zwei Jahren tausende Geflüchtete gegen ein »Europa der Abschottung« stellten, erwirkten sie schließlich die Grenzöffnung.

Wenige Tage nach der Demonstration erfahren wir, dass Aufnahmen von ungarischen Aktivist*innen auf Internetseiten der extremen Rechten veröffentlicht wurden. Im Austausch mit einer Aktivist*in aus Budapest erfahren wir, wie schwer die politische Arbeit gegen die Grenzpolitik der Regierung in Ungarn ist. Sie berichtet von Repressionen und Kontrolle der Medien durch den ungarischen Staat. Nach der Reform des Bildungssystems in Ungarn kam es bereits zu Protesten mit bis zu 80.000 Teilnehmer*innen.

Im Anschluss an die Demonstration fahren wir nach Belgrad. Eine Aktivist*in vor Ort klärt uns über die dort seit einigen Wochen laufenden landesweiten Demonstrationen auf. Ausgelöst wurden diese bereits vor rund einem Jahr durch die illegale Räumung von Wohnhäusern, gegen welche die Polizei nicht einschritt. Nach der Wahl des Regierungschefs Aleksandar Vučić zum Staatspräsidenten, kam es zu Massenprotesten. Viele Menschen in Serbien leben äußerst prekär, das Durchschnittseinkommen liegt bei umgerechnet 350 Euro monatlich, die Jugendarbeitslosigkeit bei 44 Prozent und das Sozialsystem funktioniert nur rudimentär.

Am darauffolgenden Tag besuchen wir leerstehende Lagerhallen in der Nähe des Bahnhofes, in denen rund tausend Geflüchtete leben. In der Umgebung wohnen ungefähr 500 Minderjährige in einfachen Zelten unter einem Parkdeck. Die Regierung Deutschlands schob in den letzten Jahren massiv Menschen in Balkanstaaten ab, teilweise obwohl sie dort nie gelebt hatten. Dies versinnbildlicht ihre politische Vormachtstellung: Sie hat die Freiheit zu entscheiden, Asylgesetze im eigenen Land zu verschärfen und die verheerenden Auswirkungen an die EU-Außengrenzen zu verlagern.

Die Bilder aus Belgrad vom vergangenen Winter sind die gleichen. Zu sehen sind Tonnen, in denen mitunter Plastik verbrannt wird, was zu giftigen Dämpfen in den kalten Hallen führt. Viele Menschen, die mit einem klaren Ziel in Richtung Norden flüchteten, stecken nun an solchen Orten fest. Grund dafür sind die umliegenden Staaten, die sich mit allen Mitteln abschotten. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen und der Überfüllung in den staatlichen Unterkünften ziehen es viele vor in diesen leerstehenden Lagerhallen auszuharren. Mitarbeiter von »Ärzte ohne Grenzen« und »No Name Kitchen«, die jeden Tag warme Mahlzeiten zubereiten, sind regelmäßig vor Ort.

Am 11. Mai startet in den frühen Morgenstunden die Räumung der Baracken in Belgrad. Mitarbeiter*innen des serbischen Kommissariats für »Migration und Flüchtlinge« versprühen schon am Tag vorher Insektizide in den Hallen. Es erhebt sich Protest unter den dort Wohnenden, Menschen treten in einen Hungerstreik. Sie werden nicht gehört und gezwungen in Busse zu steigen. Wer nicht freiwillig einsteigt, so die Drohung, wird direkt ins geschlossene Camp nach Preševo gebracht. Widerstand gibt es auch von unterstützenden Gruppen vor Ort. Die Räume der »No Name Kitchen« wurden als erste eingerissen. Hinter der Räumung steht auch das Großprojekt »Belgrade Waterfront« der »Eagle Hills Company«. Es sollen Luxusbauten auf zwei Millionen Quadratmetern Stadtgebiet entstehen. Was auf deren Internetseite als innovativer »Facelift« für die Stadt bezeichnet wird, sorgt für Empörung. Mehr als 200 Parteien wurden Schätzungen zufolge bereits ihres Wohnraums beraubt.

Wir verteilen Zeitungen von selbstorganisierten Geflüchteteninitiativen aus Deutschland und kommen dabei mit einzelnen Menschen ins Gespräch. Ein Geflüchteter erzählt uns, dass die Bewohner der Baracken selbst Sprachkurse anbieten. Unter anderem wird Englisch gelehrt, um sich in den Zielländern besser verständigen zu können. Wir werden mit der Frage konfrontiert, ob es für uns Urlaub ist, wenn wir uns an solch einem Ort für so kurze Zeit aufhalten und fragt uns, wie solch ein Aktivismus aus unserer privilegierten Position aussehen kann. Er berichtet, dass sich immer wieder Aktivist*innen lediglich für einen kurzen Zeitraum in Belgrad aufhalten, um Geflüchtete zu unterstützen. Wir diskutieren auch untereinander: Wie kann solidarischer Aktivismus auf der Balkanroute ohne Wohltätigkeitcharakter aussehen? Wie betrachten wir den andauernden Widerstand der Menschen an solchen Orten? »Many people are fleeing from here because they have no other chance«, berichtet ein Aktivist. Damit wird klar, wie schwer politischer Aktivismus ist, wenn die eigene Existenz nur unzureichend abgesichert ist.

Abschließende Antworten finden wir in diesen wenigen Tagen nicht. Durch die Gespräche und Eindrücke in Ungarn und Serbien erfahren wir jedoch mehr über die Perspektiven der Aktivist*innen, wie auch über die Lebensbedingungen fliehender Menschen in Orten wie Röszke oder Belgrad. Außerdem wurde eine Basis für eine zukünftige Zusammenarbeit mit Aktivist*innen vor Ort geschaffen, um dauerhaft gemeinsam politischen Druck gegen die europäische Grenzpolitik aufzubauen. Dazu ist geplant, diese im September 2017 zu lokalen Aktionstagen einzuladen, die im Vorfeld der Bundestagswahlen stattfinden sollen.

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