Proteste in den USA: Zwischen Aufschrei und Agonie

In den USA gehen immer mehr Menschen auf die Straße. Die Depression nach Trumps Wiederwahl ist vorüber. Wie verhalten sich die Demokraten dazu?

  • Max Böhnel
  • Lesedauer: 7 Min.
Landesweit wird unter dem Motto »No Kings« - »Keine Könige« - gegen Trump und sein Durchregieren mittels Dekret protestiert, hier in Casselberry, Florida. »Felon« meint im Deutschen einen Schwerverbrecher.
Landesweit wird unter dem Motto »No Kings« - »Keine Könige« - gegen Trump und sein Durchregieren mittels Dekret protestiert, hier in Casselberry, Florida. »Felon« meint im Deutschen einen Schwerverbrecher.

»So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagt der 67-jährige Michael Welch aus Montclair im Bundesstaat New Jersey. An jedem 4. Juli läuft Welch die Straße hinunter, um den Parade-Gängern zuzuwinken. Doch »zum ersten Mal wird hier provoziert. Das kann nicht gut gehen«, schüttelt er den Kopf.

Erstmals zieht die örtliche Republikaner-Partei, die sonst aus einer Handvoll Leuten besteht, mit einem übergroßen Festwagen vorbei. »Make Montclair Great Again« heißt es auf einem Transparent. Dahinter läuft ein grinsender Krawattenträger. Er schwenkt eine Fahne mit der Aufschrift »Trump 2028«. Die Provokation stößt im traditionell demokratisch wählenden Montclair auf heftigen Widerspruch. »No Trump, no kings, no nazis«, ruft eine Frau mittleren Alters. Zwei junge Männer stellen sich dem Fahnenträger in den Weg, einer entreißt ihm die Fahne und schleudert sie zu Boden.

Doch der Trumpist lässt sich nicht beirren. Nach einer kurzen Schubserei ziehen die beiden Jungen von dannen, der Mann greift nach seiner Fahne und zieht mit ihr schwenkend weiter. »Unfassbar, was die Republikaner sich inzwischen trauen«, klagt Michael Welch. Eine politische Provokation auf offener Straße mitten in einer von Demokraten dominierten Kleinstadt am Independence Day – an so etwas kann sich hier niemand erinnern.

Die Szene in Montclair war kein Einzelfall. Landesweit prallten am 4. Juli ähnliche Spannungen aufeinander, als in Hunderten von Städten Proteste gegen die Trump-Regierung aufflammten. Der Tag fiel zusammen mit der Unterzeichnung von Trumps Gesetzespaket »Big Beautiful Bill«. Das Gesetz zerstört das löchrige Sozialnetz noch weiter. Es schichtet Geld zugunsten von Trumps umstrittensten Vorhaben um – etwa die massive Aufstockung der Mittel für die Einwanderungs- und Zollpolizei (ICE). Diese ist für die vielen teilweise brutalen Abschiebungen zuständig. An Hunderten Orten, auch in denen die Republikaner dominieren, äußerten Menschen am Independence Day ihren Unmut. Das war etwas Besonderes, denn eigentlich wird der Unabhängigkeitstag unpolitisch gefeiert. Daran hat sich die Demokratische Partei gehalten. Sie reagiert ohnehin bisher eher zurückhaltend auf den autoritären Staatsumbau, während die Graswurzelbewegung oft wütend auf die Straße zieht.

»No Kings«-Demos ein Wendepunkt

Die Juli-Proteste waren nur der jüngste Höhepunkt einer Bewegung, die bereits Wochen zuvor mit den »No Kings«-Demonstrationen am 14. Juni – Trumps 79. Geburtstag – Geschichte geschrieben hatten. Denn die Proteste fanden überall in den USA statt. In mehr als 2300 Ortschaften kamen geschätzt bis zu zehn Millionen Menschen zusammen. Der Sozialwissenschaftler Branco Marketic bezeichnete den 14. Juni im linken »Jacobin«-Magazin als einen »Wendepunkt«.

Die seit Trumps Wahlsieg im November 2024 andauernde Depressionsphase der Opposition sei damit vorbei. Nicht nur die riesige Menge an Demonstrierenden bezeuge dies, sondern auch ihre Reichweite. Die Proteste beschränkten sich keineswegs auf die großen, bevölkerungsreichen Metropolen, sie hatten auch tiefstes Trump-Land erfasst. Selbst dort, wo Anhänger*innen der Republikaner mit Gewalt drohten, ließen sich Demonstrierende nicht einschüchtern, etwa in Florida, Texas oder Alaska.

Da »Big Beautiful Bill« eines der unbeliebtesten Gesetze in der US-Geschichte ist, hoffen die Demokraten, dass die Republikaner bei den kommenden Midterm-Wahlen abgestraft werden.

Diesem bisherigen Höhepunkt am 14. Juni gingen aufwändige Mobilisierungen an der Basis voraus, die unabhängig von der Demokratischen Partei erfolgten. Den Anfang machte eine Internet-Gruppe namens »50501«, eine Abkürzung für die Ursprungsidee, 50 Proteste in 50 Bundesstaaten an einem Tag zu organisieren. Die Idee war wenige Tage nach Trumps Amtseinführung Ende Januar auf der Internet-Plattform Reddit entwickelt worden.

Am ersten Protest Anfang Februar beteiligten sich 72 000 Menschen, am zweiten Mitte des Monats (»Not My Presidents Day«) etwas mehr. Die Aktionsgruppe kooperierte fortan mit »Political Revolution«, einer 2016 für Bernie Sanders’ Kampagne gegründeten Gruppe. Mitglieder der Bewegung beteiligten sich an der Organisation der »Hands Off«-Proteste am 5. April 2025. Diese fanden dann bereits an 1200 Orten statt. Laut Schätzungen beteiligten sich mehr als 5 Millionen US-Amerikaner*innen daran. Ähnlich viele Menschen gingen zwei Wochen später, am 19. April auf die Straße sowie – unter geringerer Beteiligung – am 1. Mai. Dann kam der vorläufige Höhepunkt der Proteste: der »No Kings«-Day.

Indivisible zieht die Strippen

Doch spontan war dieser Erfolg nicht – dahinter steckte jahrelange Organisationsarbeit. Eine treibende Kraft dieser landesweiten Mobilisierung ist Indivisible, eine Graswurzelbewegung mit einem zentralen Büro in Washington und mittlerweile Tausenden von Ablegern in Städten und Gemeinden der USA. Entstanden ist die Organisation vor neun Jahren, kurz nach Trumps erstem Wahlsieg.

Das Ehepaar Ezra Levine und Leah Greenberg arbeitete für unzufriedene Kongressabgeordnete. Beide hatten zusammen eine Schrift verfasst. Darin empfahlen sie progressiven Politiker*innen, manche Taktiken der rechtsextremen Tea-Party-Bewegung zu übernehmen. Diese hatte einst mit massivem Druck die Republikanische Partei nach rechts verschoben. Diese Strategie gelte es auf die Demokraten zu übertragen und auf die eigenen Kongressabgeordneten einzuwirken. Inzwischen wird die Stimme von Indivisible gehört, sie hat sich zu einer tragenden Säule der Opposition entwickelt.

In einem E-Mail-Rundschreiben nach der erfolgreichen »No Kings«-Mobilisierung am 14. Juni forderte die Initiative den Ausbau einer »breit aufgestellten Bewegung, um Trumps Agenda entgegenzutreten«. Mit Spendengeld, das seit dem »No Kings«-Tag reichlich fließt, sollen eine Million Menschen zu Bewegungsorganisator*innen geschult werden, um Druck auf demokratische Amtsinhaber*innen auszuüben. Diese sollen Trumps Politik nicht nachgeben, sondern ihr entgegentreten.

Präsident Donald Trump hat Streitkräfte gegen die Proteste in Stellung gebracht. Demonstrierende stehen am Independence Day Einheiten der Marines vor einem Bundesgebäude in Los Angeles gegenüber.
Präsident Donald Trump hat Streitkräfte gegen die Proteste in Stellung gebracht. Demonstrierende stehen am Independence Day Einheiten der Marines vor einem Bundesgebäude in Los Angeles gegenüber.

In den wöchentlichen, jeweils am Donnerstag stattfindenden Online-Konferenzen plädieren Levine und Greenberg für eine Schwerpunktkampagne mit zivilem Ungehorsam gegen die ICE-Behörde, die sie als amerikanische »Gestapo« bezeichnen. Ihre Begründung: Das drastische Sparprogramm im jüngsten Steuer-Gesetz des Kongresses würde erst nach den Zwischenwahlen im kommenden Jahr greifen, aber die Finanzierung von ICE mit 37,5 Milliarden Dollar und der repressive Staatsapparat würden sich schon jetzt bemerkbar machen. Für ein langes Warten auf einen möglichen demokratischen Wahlsieg in 16 Monaten bei den Zwischenwahlen bleibe keine Zeit.

Zögerliche Demokraten

Diese Ungeduld steht in scharfem Kontrast zur Haltung der Parteiführung der Demokraten, die an einer Stillhalte-Strategie festhält, auch wenn es deswegen an der Basis zunehmend rumort. Da »Big Beautiful Bill« eines der unbeliebtesten Gesetze in der US-Geschichte ist, hofft die Partei, dass die Republikaner bei den kommenden Midterm-Wahlen abgestraft werden. »Die Republikaner werden 2026 die Mehrheit verlieren, und das große hässliche Gesetz wird der Grund dafür sein«, heißt es in einem parteiinternen Memorandum.

Diese Selbstberuhigung passt zu dem viel diskutierten Diktum des ehemaligen Clinton-Beraters James Carville. Er hatte im Februar in der »New York Times« die Demokraten vor einem konfrontativen Kurs gegenüber Trump gewarnt und eine »taktische Pause« eingefordert, um die internen Zerwürfnisse der Republikaner sichtbar zu machen. Ohne Führungsfigur und ohne Macht in Regierung oder Parlament sei es für die Demokraten strategisch klüger, sich still zu verhalten – »roll over and play dead« (legen wir uns nieder und stellen uns tot) hatte Carville ernsthaft formuliert.

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Doch nicht alle Demokraten wollen sich mit dieser Passivität abfinden. Zunehmend lauter wird die Kritik an der eigenen Partei – befeuert auch durch eine Debatte, die ein Bestseller ausgelöst hat. Weshalb bekommen gerade von Demokraten regierte Städte wie New York, Chicago oder San Francisco ihre Wohnungsprobleme nicht in den Griff?, heißt es in dem viel diskutierten Buch namens »Abundance« auf Platz eins der Bestsellerliste der »New York Times«.

Die Autoren Ezra Klein und Terek Thompson fordern darin die Abkehr von staatlicher Regulation hin zu einem »produktiven« Staat, der für »Abundance« sorge: mehr Wohnraum, Infrastruktur, Energie und staatliche Handlungsfähigkeit. Progressive Politik müsse sich nicht länger nur darauf konzentrieren, Verteilungskämpfe zu führen, sondern auch das Angebot erweitern – mehr bauen, mehr erzeugen, mehr ermöglichen.

Die linke Kritik daran: Kleins und Thompsons Argumentation sei technokratisch sowie klassen- und machtblind. Was nütze »mehr bauen«, wenn die Wohnungen für den Markt gebaut werden? Was bringe mehr grüner Strom, wenn nur Konzerne profitieren? Einkommensschwache Haushalte hätten davon nichts. Und was bedeute »Fülle« in einem Land, in dem Millionen keinen Zugang zu Krankenversorgung oder existenzsichernder Arbeit haben? Diese Grundsatzfragen treiben die strategische Debatte der Demokraten an.

Walid Shahid, der die progressive Opposition bei den Demokraten mit anführt und die linke Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez sowie den New Yorker Bürgermeisterkandidaten Zohran Mamdani berät, schrieb zur Abundance-Debatte in der Zeitschrift »The Nation« treffend: linker Populismus ohne Macht sei Theater. Technokratie ohne Umverteilung Kapitulation. »Ersterer diagnostiziert bloß die Krise. Letztere stellt zwar Werkzeuge bereit, die aber niemand in die Hand nehmen kann.« Die Demokraten müssten beides kombinieren: die Demokratiezerstörer beim Namen nennen und die Macht erringen, um sie zu stoppen. Andernfalls löst die Partei keine Probleme, sondern verwaltet nur ihren eigenen Niedergang.

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