Die Einzelzelle ist fast ein Schnäppchen

Niedersachsen: Im früheren Göttinger Gefängnis sollen bald Touristen beherbergt werden - auch Langzeitarbeitslose und Flüchtlinge sollen so Arbeit bekommen

  • Reimar Paul, Göttingen
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Idee, findet Dietmar Linne, »hat doch Charme«. Die sechs Quadratmeter kleinen Zellen im leer stehenden Gefängnis von Göttingen (Niedersachsen) könnten zu Einzel- oder Doppelzimmern für Low Budget-Touristen umgebaut werden. Natürlich müssten neue Sanitäranlagen und Heizungen her, aber sonst bliebe »die alte Knast-Atmosphäre ein Stück weit erhalten«. Linne ist Vorstand der Göttinger Beschäftigungsförderung und Projektleiter des ehrgeizigen Vorhabens, die Haftanstalt zum Hostel umzubauen. Von den dicken Wänden bröckelt der Putz, das Dach ist undicht, die Freiflächen sind von Unkraut überwuchert. In einigen Zellen hängen noch Bilder von Rennwagen und spärlich bekleideten Frauen. Häftlinge hatten sie aus Zeitschriften gerissen und mit Zahnpasta auf den Beton klebt. Einige Gefangene haben sich mit Graffiti und Sprüchen auf den Wänden verewigt. »Die DDR muss wieder her«, hat einer geschrieben. Die Buntstiftzeichnung von den Teletubbies im Haftraum daneben ist schon etwas verblasst. Ein paar Türen weiter, in Zelle 52 bedeckt ein großes Gemälde die ganze Wand: Zwei betende Hände, drum herum ein blühender Rosenstrauch.

1836 wurde die Haftanstalt gebaut, zuletzt diente sie als Untersuchungsgefängnis, seit zehn Jahren steht sie leer. 2008 erwarb die Stadt Göttingen das wuchtige, denkmalgeschützte Gebäude. Zeitweise war eine Nutzung als Museum im Gespräch, doch diese Idee zerschlug sich. Ende 2016 präsentierte die Beschäftigungsförderungsanstalt dann ihre Hostel-Idee. Rund 100 Übernachtungsplätze könnten hier entstehen, sagt Linne. Die preisgünstigsten in den Einzelzellen, etwas teurere in den Gemeinschaftsräumen.

Auch für die von einer hohen Mauer und Drahtrollen umfriedete Fläche, auf der die Häftlinge beim Freigang ihre Runden drehten, haben Linne und Co-Planer Peter Rossel schon Ideen: Sie könne zum Eingangsbereich mit Café und Fahrradverleih umgestaltet werden. Der große Innenhof, den sich das Gefängnis mit der Staatsanwaltschaft teilte, tauge für Konzerte und andere Kulturveranstaltungen. Durch die halbrunden, historischen Rosettenfenster im Dachboden fällt der Blick auf die gegenüberliegenden Bauwerke: das Mahnmal für die frühere Synagoge, das Übernachtungsheim der Heilsarmee sowie das vor anderthalb Jahren besetzte und später von den Besetzern gekaufte frühere Gewerkschaftshaus mit den politischen Spruchbändern in den Fenstern. Diese und alle anderen Nachbarn will Linne an der Planung des Hostels und der späteren Nutzung beteiligen.

Auch Langzeitarbeitslose und Flüchtlinge sollen mit ins Boot. Mindestens die Hälfte der Aufträge werde an regionale Betriebe vergeben, die Geflüchtete als Praktikanten beschäftigen oder ganz übernommen haben, kündigt Linne an. Auch in der Hostel-Gastronomie könnten Flüchtlinge beschäftigt werden, insgesamt bis zu 30 neue Jobs sollen entstehen.

Unumstritten ist das Projekt im Viertel aber nicht: Anwohner kritisierten, sie würden vor vollendete Tatsachen gestellt. Auch grundsätzliche Skepsis, dass ein Hostel gar nicht den Bedürfnissen des Viertels entspreche, wurde schon geäußert. Studierende benötigten keine Jugendherberge, sondern günstigen Wohnraum, hieß es.

Linne und Rossel und mit ihnen die Mehrheit des Stadtrates sehen das ganz anders. Es fehle in der Unistadt an preisgünstigen Hotelbetten. Das Hostel könne diese Lücke schließen und zudem das Quartier am Rand der Innenstadt wiederbeleben.

Rund sechs Millionen Euro soll die Sanierung des Knastes nach bisherigen Kalkulationen kosten. So viel Geld hat Göttingen nicht übrig. Die Beschäftigungsförderungsanstalt hat deshalb Mittel bei der EU beantragt. Fünf Millionen könnte Brüssel dazu schießen, im Herbst wird über den Antrag entschieden. Gibt die EU grünes Licht, könnten schon 2020 die ersten Übernachtungsgäste in das alte Gefängnis einziehen.

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