»Kommt und seht das Blut auf den Straßen«

In der Elbphilharmonie Hamburg dirigierte der Ausnahmekünstler Teodor Currentzis das Riesenwerk »Coro« von Luciano Berio

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Repertoire des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters ist zu 90 Prozent klassisch-romantischer Abkunft. Daneben erscheint Musik aus dem europäischen Hochbarock und der klassischen Moderne. Neues Haus, oben mit Rundumblick auf ganz Hamburg, einmalig in Architektur und innerer Struktur, akustisch auf hohem Niveau, nahe der Meeresküste gelegen - hieße das nicht, frischer Wind, neue Ideen, Ungebärdigkeit fege durch die Hallen? Wenig ist davon zu spüren. Allzu lau der Wind. Durch die Programme gleitet stattdessen die Rücksichtnahme auf das internationale Publikum, als würde das bei außergewöhnlichen Angeboten fernbleiben.

Gegenteiliges zeigte der vergangene Montag. Das Publikum rollte die Rolltreppen hinauf, hin zum Großen Saal. Ins Glück. Nicht in die Verderbnis. Glück? Ja. Totales Glück! Teodor Currentzis dirigierte.

Der junge Mann ist der Herkunft nach Grieche, aber seine zweite Heimat wurde Russland. In Athen geboren, studierte er in den 90er Jahren am St. Petersburger Konservatorium bei erstklassigen Lehrern Klavier, Chorleitung und Dirigieren. Bald darauf leitete Currentzis künstlerisch die Staatsoper und das Ballett in Perm, der Millionenstadt im Uralvorland. Alle Chancen standen ihm offen. Wer feste Vorstellungen von und für etwas hat, der gründet und entwickelt, was dazu passt. Während seiner Zeit als Chefdirigent der Staatsoper Nowosibirsk erschuf er sich den Kammerchor und das Ensemble MusicaAeterna. Letzteres wurde zum Ersten Orchester der Permer Staatsoper ernannt.

Zukunftsfähige Begabungen wie ihn, hochtourig arbeitend in der Ferne - irgendwann entdeckt sie der westliche Betrieb und spannt sie ein. Sony Music hatte den richtigen Riecher. Currentzis brachte für das Label mit seinen Ensembles und ersten Solisten Mozarts »Figaros Hochzeit«, »Così fan tutte« und »Don Giovanni« in einer Qualität auf Platte, die staunen macht. Ungeahnte Perspektiven der Wahrnehmung eröffnen sich. Die Aufnahmen lassen Arien, Duette, Ensembles hören, von denen selbst erste Sängerinnen und Sänger der großen Häuser nur träumen können. Dass er ab 2018/19 das SWR-Sinfonieorchester übernimmt, also dann in der Nachfolge des großen Michael Gielen steht, ist gleichfalls großes Glück. Er ist anders als Gielen, aber von gleichem Schrot.

Teodor Currentzis ist nicht der neue Held, kein neuer Stern am Himmel oder Lichtgestalt, die alles überglänzt. Nein, das ist die Sprache des Kommerzes. Currentzis ist schlicht ein unerhört fähiger Musiker, anders und besser, weil wirklich entflammt von seinem Gegenstand, als die Unzahl der Maestros in ihren Fracks und Lackschuhen, anders als die banausischen Traditionalisten, für die Musikgeschichte bei Mahler und Schostakowitsch aufhört. Nichts ist gegenwärtig, schlösse es nicht Vergangenes und Zukünftiges in sich. Dieser Dreieinheit setzt sich der Künstler aus und drückt ihr seinen Stempel auf - körperlich, geistig, musikalisch. Allein die von ihm ausgesuchten Stücke verraten darüber schon viel.

Das erste, eine Intrada für fünf Blechbläser von Luciano Berio, genannt »Call (St. Louis Fanfare)«, stellt er in einen Geräuschzusammenhang. Hörmaterial von Tamtam und Großer Trommel geht von zwei auseinanderliegenden Positionen aus in den Raum und fällt mit den Blasphonien von zwei Trompeten, von Posaune, Bariton und Tuba zusammen. Das Konzert beginnt nicht wie gewöhnlich. Schwärze regiert. Die Solistin und die Orchestranten betreten bei Dunkelheit die Bühne, die beschriebene Musik klingt schon, die Lampen der Notenpulte blinken sukzessive auf. Atmosphäre, als würde ein Requiem anheben. Dabei lässt sich die Berio-Intrada jazzig und fröhlich aus.

Attacca subito geht es über zum zweiten Stück: György Ligetis »Lux aeterna« für Chor a cappella von 1966. Hier darf der MusicaAeterna-Chor aus Perm all sein Können zeigen. Alte Musik, mit den geistesgegenwärtigen Ohren des Ungarn gehört, reich an zartesten Schwebungen und polyfonen Verwebungen.

Das dritte Stück stammt von dem Franzosen Claude Vivier (1948 - 1983), viel zu früh gestorbene, eminente Begabung: »Lonely Child« für Sopran und Orchester (1980). Was hier die junge Sopranistin Sophia Burgos aufbot, ist nicht zu fassen. Parts, sakral, volkstümlich, hochmodern in einem. Unbeschreibbar die zahllosen Nuancen, die waghalsigen Lagen, die Tücken der Tonbildung, die bis zum Äußersten getriebene Expressivität. Ganz auf diesem Niveau musizierte das Mahler Chamber Orchestra.

Selten aufgeführt, dabei ganz neu, frisch, aktuell wirkend: Luciano Berios »Coro« (1975/76) am Schluss. Ein gewaltiges Werk, vielsprachig angelegt und eigenwillig geformt. Wer es macht, muss erstens der Musik der Welt vertrauen, zweitens den Weltsprachen zugänglich sein, drittens aufs Verschiedenste artikulieren können. Orchester und Chor vermischen sich, neben der Geige sitzt die Sopranistin, neben dem Fagott der Tenor, der Bass neben der Posaune, die Altistin neben der Flöte und so fort. Berio sammelte seinerzeit Melodien, Texte, Poesien aus vielen Regionen der Welt und akkordisierte sie zu einer vielstimmigen supranationalen Einheit. Eingebaut sind wiederkehrende Verse aus Pablo Nerudas »Residencia en la tierra« mit dem Hauptmotiv »Kommt und seht das Blut auf den Straßen«, Reflex auf den Sturz Allendes in Chile 1973. Solche Punkte verlangen höchste Erregung: Schreie, immerfort Schreie. Das Orchester brüllt, die Choristinnen springen von ihren Sitzen, stimmen ein in das Allgewaltige.

Teodor Currentzis enthält sich nicht. An einer Stelle hebt er die Arme, spreizt die Finger, dreht sich zum Publikum, lässt wie die anderen aus seinem Munde grausam fahren, worauf das Gros der Welt wartet, den Aufstand der Massen.

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