Durchlässig auf der Schwelle

Theater Magdeburg: »Die Stunde da wir nichts voneinander wußten« von Peter Handke

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Aus der mechanischen Physik ist die schöne Auskunft bekannt, etwas habe: Spiel. »Dass etwas Spiel hat, bedeutet dem Wortsinn nach, dass es sich bewegen kann, und es ist eine der Grundbedingungen für das Theater als freiheitliche Lebensform.« So hat es der Theaterdenker Thomas Oberender notiert, in einem seiner großartigen Essays (»Das Sehen sehen«). Spiel als ein Abrücken vom pressend Geordneten des Alltags. In einem Gespräch mit Oberender sagt der Dichter Peter Handke: »Ich habe das Gefühl, ich muss spielen, damit ich an den anderen überhaupt vorbeikomme.« Bleib beweglich, steh alles durch, ohne dich nur immer durchsetzen zu wollen. Bleib Übergang, such »die Schwelle«. Ein ganz wichtiges Handke-Wort.

Cornelia Crombholz inszenierte am Theater Magdeburg Handkes »Die Stunde da wir nichts voneinander wußten«. Ein Piazza-Panorama. Kein einziges Wort, nur Kommen und Gehen, Begegnung und Versäumnis, Aufprall und Abdriften. Ein Endlos-Band von Mini-Geschichten. Dutzende von Schauspielern und Statisten in einem bezwingenden Auftrittsrausch der Sekunden-Dramen, der Moment-Tragödien, der Augenblicks-Komödien, der Wimpernschlag-Romanzen. Vor einem Wolkenhimmel-Prospekt (Bühne: Marion Hauer) ein Menschen-Menschheitsgeschichte(n)-Kaleidoskop. Da, der Abwinkende; dort, die Aufschauende; vorn die Turtelnde, hinten der tumb Trampelnde. Die Bühne wie ein Durchlauferhitzer. Ein Mann vom Gartenbauamt fegt pflichtgemäß herbstliche Laubblätter vom Platz; irgendwann wird er sich verstohlen umsehen und weglaufen - das ist Opposition gegen die Ordnung, das ist Arbeitsverweigerung im schönsten poetischen Auftrag: sinnenbewussten Menschen zu ermöglichen, weiterhin durch dickes, raschelndes Laub zu laufen.

Handke bietet Theater weit nach Schiller und Tschechow. Schiller wuchtet das Drama auf die Bühne, du kannst sehen, wie die Tragödie zusticht. Bei Tschechow findet die Tragödie meist draußen statt, auf der Bühne werden die Folgen bestottert. Handke nun erzählt das Drama, das eigentlich gar nicht stattfindet - das dir aber in den Kopf kommen kann, wenn du etwa bei Rot an der Kreuzung stehst: drüben auf der anderen Straßenseite so viele fremde Menschen. Wenn auf Grün geschaltet wird, wie viele Biografien kommen plötzlich auf dich zu. Wer von denen könnte dein Mörder sein, wer deine Liebe, die du nie erfahren wirst? Wie wird ein Mensch einem anderen zum Schicksal? Zufall, Fügung. Vergiss die Schwätzer der Gesetzlichkeit, der logischen Vernunft. Der Kern des Lebens ist die Geschichte, die du versäumst. Der Blick, dem du ausweichst. Der Kontakt, den du scheust. An wie vielen möglichen Wendepunkten laufen wir fortwährend vorüber?

Handkes Theater wird in Magdeburg einmal als Werk eines mutigen Träumesängers offenbar, der nicht dramatisiert, sondern kündet. Schön, wie er sich immer wieder in die Spielpläne »schleicht« (Oberender) - kein Eindringling, aber eindringlich schon. Seine Entrückung, die keiner einzigen Konvention zum Munde redet, ist ein aufreizendes Geraderücken: Ja, jenes sanfte Verschmelzungserlebnis, das Ich und Welt zusammenschließen könnte - es ist möglich. Trotz warnender, oft so bitterer Gattungserfahrung, die hier ebenfalls ins Bild geholt wird.

Es ist ein Abend der unzählbaren Welten, die da kreisen und kauern und kämpfen. Ein Abend mit Posierenden und Predigenden, mit Notärzten im Einsatz, mit vergeblich lustigen Straßenclowns, mit einem kleinen Panzer, hypernervösen Soldaten mit Waffe im Anschlag. Viele Regenschirme, viel Beamtentempo, viele Aktentaschen (die man sich vors Gesicht hält, wie ein Verbrecher sein Gesicht hinter einer Kladde verbirgt). Zwei jüngere Leute geben sich die Hand. Zwei alte, gebeugte Frauen schlagen auf junge Männer ein. Mal Zeitlupe, mal Raffer. Rollator und Roll over. Die Windmaschine tobt. Kälte weht. Gewitter knallt. Schwarze Witwen stehen stramm. Ein Vogel tanzt, seinen Käfig unterm Arm; später wird er abgeführt, und er wird sich auf dem Boden krümmen, den Kopf im Gitter - immer kehrt jede Freiheit in ihre Heimat zurück: das Joch. Revolutionen bilden da keine Ausnahme: Der da die rote Fahne schwingt, sieht er nicht aus wie Lenin? Ach, dieses Rot: wollte Feuerzeichen gegen die Ausbeuter sein und wurde selber Scheiterhaufens Flammenfarbe.

Leider mischte sich mir ein störendes Moment in den Fluss der Schlaglichter: Musik! Die - warum nur! - zu üppig und oft wie eine Pflegecreme über die Szenerie geschmiert wird, zum Teil Popmusik, die das Bild zunehmend schwächt, es zur Illustration einer musikalisch aufdringlich vorgegebenen Stimmung erhebt - die Revue drängt sich in die Poesie hinein. Ein einziges Mal freilich provoziert Cornelia Crombholz bestechend, berührend mit Tönen: zwanzig Minuten Ravels »Bolero« - dazu ein entschlossen verzögerter, schier unendlicher Zug von Menschen. Er überquert die Bühne - Flüchtlinge? Gleichgültige? Verlorene? Vergessene? Verstaubte? Vertriebene? Wiedergänger? Mit Stühlen, Koffern, Schlitten, Harken. Ein beklemmendes, aufreizend lang-atmiges Bild. Das Publikum in der Geduldsprobe: zwanzig Minuten!

Eine Aufforderung zum Hinsehen, die aber die Aufforderung einschließt, jede Gestalt dieses nicht abreißenden Zuges mit einer Geschichte zu versehen. Die Langsamkeit der Bewegung lässt dir Zeit dazu. Was treibt, sind lediglich die zwei verschiedenen Trommel-Takte. Das berühmte Endlos-Ostinato. Es wird lauter und lauter und reißt das Orchester mit, bis zum abrupten Abbruch der Melodie: Alle Steigerung - von Liebe, von Bewegung, von Leidenschaft, von Arbeit - endet im scharfen Schnitt, im Tod.

Ein Kindersarg wird hereingetragen. Wie sehr wünschen wir uns, mit Friedhofsritualen, die von einem Körper Abschied nehmen, doch zugleich etwas ausdrücken zu können von unserem festen Glauben in die Bestandsfähigkeit einer Seele - denn vielleicht leuchten die Dinge tatsächlich erst in der Dunkelheit, und nur das Schwere ist tatsächlich die Schwinge, die uns trägt. Aber dass ein Kind vor seinen Eltern stirbt, ist schlichtweg das größte allen Elends - nein, das zweitgrößte; das größte Elend ist in solchen Momenten die Unabänderlichkeit. Und Gott muss als Versager erscheinen.

Ein kleines Mädchen verliert im Straßentrubel kurzzeitig seine Mutter, strudelt sich in seiner Ausbüchsfreude (und Angst!) in eine Welt wundersamer Märchen- und Albtraumgestalten hinein. Wie überhaupt zu jeder Menschenwahrnehmung das mythische Übermalen gehört: Der dort drüben - könnte so nicht Jesus ausgesehen haben? Und tatsächlich quert ein Kreuzträger die Bühne. Und die da hinten - stellt man sich so nicht das Hexeninbild vor? Am Ende der zwei Stunden steht ein Erkaltungsbild, das alle Menschen erstarren lässt. Die Kälte nach einer Auslöschung. Rückkehr ins animalische Gebaren einer Affenhorde. Alles auf Anfang: Nur immer die längst vergangene Zeit ist unvergänglich. Als noch kein Unterschied war zwischen Haben und Sein. Und die Erde? Ein kleiner Leuchtglobus, den das kleine Mädchen über die Bühne zieht.

Handkes Theater kreist um den notwendigen Bruch des Menschen mit der eigenen Rohheit. Nur der Mensch, der »durchlässig« wird (auch so ein Hauptwort des Dichters), ist rettungsfähig: »Es erzählt sich ihm alles. Die Welt erzählt sich ihm, weil er sie durch sich durchlässt. Durchlassen ist auch schmerzlich.« Darin besteht das Wesen dieses Magdeburger Abends. Leben: sich in die Welt hinein übersetzen, bis man sich selber auf neue Art verständlich wird - aber plötzlich nichts mehr selbstverständlich ist.

Nächste Vorstellungen: 9., 10. Juni

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