Das neue Europa

Krise, welche Krise? Und wo bitteschön geht’s zum Notausgang? Über die progressive Linke in einer Zeit des Übergangs

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 8 Min.

Spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gehört es zu den häufigeren Übungen kritischer Weltbeobachtung, die allgemeine Entwicklung als Phase des Übergangs zu bezeichnen. Wird von links auf den globalen Kladderadatsch geblickt, ist meist auch ein Zitat des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zur Hand: »Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.«

Die Monster haben Namen, und es ist nicht nur der Trumps zu nennen: die französische Rechtsradikale Marine Le Pen gehört ebenso in die Reihe jener »Figuren« wie die »starken Männer« der autoritären Internationale, Vorgänge wie der Brexit und die Radikalisierung der bürgerlichen und extremen Rechten werden dazugerechnet, die um sich greifende Verachtung für (eine zugegebenermaßen unvollkommene) Demokratie, für rechtsstaatliche Regeln, Freiheitsrechte und so fort.

Linke Artisten in der Zirkuskuppel, oft ratlos

Was gemeint ist, wenn die kritische Sicht auf die Entwicklung Gramsci aufruft, erscheint naheliegend: Das, was sich da tief im Untergrund gesellschaftlicher Verhältnisse verschiebt, löst an der Oberfläche beängstigende Entwicklungen aus, treibt soziale und politische Regression voran. Über das, worauf das Ganze hinauslaufen könnte, ist damit aber nicht unbedingt schon etwas gesagt. Und damit ebenso wenig über die Möglichkeiten linker Reaktion, progressiver Einwirkung, alternativer Pfade. Deshalb passt hier auf die Linken wohl auch die auf einen Film Alexander Kluges zurückgehende Formulierung von den »Artisten in der Zirkuskuppel«, die da oben trotz all ihrer kritischen Aussicht, ihres ökonomischen Überblicks, ihrer politischen Kunstfertigkeiten »ratlos« hängen.

Man könnte noch eine andere Überlegung mit Gramscis sterbender alter und der noch nicht geborenen neuen Welt zusammenbringen: das Auseinanderfallen von politischer Form und der räumlichen Realität globaler kapitalistischer Verhältnisse.

Wenn heute mitunter wehmütig auf die historische Sonderperiode nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeblickt wird, dann deshalb, weil die damals erreichte komplexe institutionelle Regulierung des Kapitalismus eine »soziale Moderne« (Oliver Nachtwey) bzw. einen »demokratischen Kapitalismus« (Yanis Varoufakis) ermöglichte, an dem sich eine Vielzahl auch heutiger politischer Zielsetzungen messen: Wohlfahrt, Sozialstaat, Bürgerrechte, gesellschaftliche Modernisierung und so weiter. Erreicht wurden sie im Wesentlichen auf der Ebene nationalstaatlicher Kompromissbildungen, wobei klassenpolitische und parlamentarische Verfahren miteinander teils recht erfolgreich verkoppelt wurden.

Der politische Ort als Niemandsland

Dann passierte etwas: Staaten setzten Deregulierungen durch, mit denen auf seit Beginn der 1970er Jahre immer offener zutage tretende Probleme der Akkumulation reagiert werden sollte. Das entsprach zwar der Logik kapitalistischer Marktinteressen und den ganz unterschiedlich verlaufenden Globalisierungen der Wertschöpfung, von Handelsströmen, Produktionsprozessen, der Arbeitsmärkte. Auf der politischen Ebene vollzog man diesen Schritt der Internationalisierung aber nicht mit. Soziale und wirtschaftspolitische Einhegungen blieben aus, und so wurde der politische Ort, an dem früher solche Kompromissbildungen möglich waren, immer öfter zum Niemandsland. Das war kein Naturereignis, hatte aber Folgen: Kapital konnte mit Flucht drohen, staatliche Politik geriet in Abhängigkeit von Finanzmärkten, die Interessenvertretung der unteren Klassen wurde schwächer.

Und damit sind wir in Europa. Die bisherige Geschichte der EU ist einerseits ein Versuch, durch Clusterbildung international die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern – gegen die US-Ökonomie und die neu aufsteigenden kapitalistischen Märkte, aber um den Preis, dabei innerhalb der EU den Vorgaben des deutschen exportnationalistischen Modells unterworfen zu werden. Dadurch und andererseits hat die europäische Integration politisch und sozial nie das Niveau erreichen können, das der neuen räumlichen Realität kapitalistischer Verhältnisse entsprechen würde. Was auch damit zu tun hatte, dass die neoliberale Form der Integration in Wahrheit eine neue Form der Konkurrenz innerhalb der EU entfacht hatte.

Die Flucht nach hinten ist keine Lösung

Und man darf nicht vergessen: Es hat immer starke Interessen gegeben, die wollten, dass die EU ein Torso bleibt – weil eine politisch stärkere Union mehr Gewicht zur demokratischen Einhegung und Regulierung des Kapitalismus auf die Waage bringen würde. Und diese Interessen sind immer noch da – und immer noch stark.

Wenn in der Debatte über Alternativen zu den real existierenden europäischen Verhältnissen bisweilen die Flucht nach hinten vorgeschlagen wird, so mag das angesichts der aktuellen Krisenhaftigkeit und der Schwäche der Linken verständlich erscheinen, ist aber keine Lösung. Gleiches gilt selbstverständlich für alle Apologeten eines autoritären Nationalkapitalismus, die ihre gefährliche Reise in die Vergangenheit manchmal mit sozialen Abfederungen ausschmücken, die aber nicht als universelle Rechte gedacht sind, sondern als nationalistisch-rassistisch eingeschränkte Bonifikationen. Keine Alternative ist es ebenso, auf die Fortsetzung des neoliberalen Status quo zu setzen und darauf zu hoffen, dieser werde schon die eine oder andere Lehre aus seiner Vergangenheit ziehen. Damit ist nicht zu rechnen.

Zu rechnen ist aber sehr wohl damit, dass unter der Parole europäischer Erneuerung nun verstärkt politische Angebote lanciert werden, die sich genau auf dieser Linie ökonomischer und politischer Kontinuität bewegen. Das »europäische Zusammenrücken« der Kanzlerin ist so ein Versuch, die falschen ökonomischen und politischen Richtlinien unter veränderten globalen Bedingungen in neuer Konfiguration zu erhalten.

Von Monstern und Zombies

Merkel hat nicht deshalb etwas gegen die internationale Unordnung, weil sie eine Kritik an den Ursachen dieser Konstellation entwickelt hat. Sondern weil die Abwesenheit von Ordnung die Voraussetzung zur Durchsetzung der Interessen untergräbt, denen sie sich verpflichtet fühlt.

Wer von den »Monstern« reden will, kann von den gegen sie in Stellung gebrachten Zombies also nicht schweigen: Wenn Angela Merkel die europäischen Interessen aufruft, um sich von »unzuverlässigen« Ex-Partnern wie den USA politisch zu emanzipieren, dann liegt darin keine Hoffnung.

Das spielt den Ball ausgerechnet in jener Stunde ins Feld der progressiven Linken, in der diese offenbar wenig ausrichten kann. »Die Zeit ist aus den Fugen«, lässt Shakespeare seinen Hamlet sagen, »Fluch der Pein, muss ich sie herzustelln geboren sein!« Oder etwas aktueller formuliert: So ein Mist, dass wir die Suppe jetzt auslöffeln müssen.

Warum? Weil das neue Europa gegenüber allen nationalkapitalistischen, neoliberalen und autoritären Varianten eines »Weiter so« die vernünftigste Alternative darstellt. Es ist eine Vorstellung von der Zukunft, die mehr ist als Utopie oder Fiction. Vom neuen Europa existieren bereits Elemente. Der Anfang ist gemacht.

Ein Anfang für das neue Europa ist gemacht

Man kann erstens an die Städte der Zuflucht denken, jenes lose Netzwerk von Metropolen und Kommunen, die auf die Krise des europäischen Umgangs mit den Geflüchteten auf ihre Weise reagieren – indem sie die meist von nationalistischen Motiven geleitete einzelstaatliche Ebene überspringen und die Aufnahme von Menschen in Not selbst in die Hand nehmen. Das ist mehr als ein Akt lokaler Barmherzigkeit. Im Frühsommer 2017 haben sich Vertreter im polnischen Gdansk getroffen, um über Konzepte der Finanzierung über die EU und andere operative Fragen zu beraten.

Man kann zweitens an den Versuch der linken europäischen Bewegung DiEM25 denken, die nun zur ersten wirklich transnationalen Partei werden will und damit aus dem Gefängnis nationalstaatlicher Enge auszubrechen versucht. Wer sozialstaatliche Integration, Bürgerrechte für alle in Europa und so fort anstrebt, wird dabei in den althergebrachten politischen Formen nicht mehr ausreichend weit kommen. Der Sprung, den Yanis Varoufakis und andere nun machen, mag zu früh kommen. Aber irgendwann muss einmal jemand springen. Die progressive Linke wird dabei viel lernen.

Man kann, um noch ein drittes Beispiel zu nennen, an die ebenso umstürzenden wie umsetzbaren Umbau-Ideen denken, die längst vorliegen, die in der Diskussion über die Zukunft der EU und Alternativen zum gegenwärtigen Modell der Integration aber viel zu wenig eine Rolle spielen. Viel zu oft wird mit Schlagworten wie »Republik Europa« oder »europäische Arbeitslosenversicherung« in der Öffentlichkeit nur Pingpong gespielt.

Mehr dialektische Gelassenheit

Das neue Europa, von dem solche Anfänge nicht »nur«, sondern »immerhin« schon vorweggenommene Zukünfte sind, wird realpolitisch sein müssen in einem sehr radikalen Sinn. Es wird darum gehen, die Möglichkeiten, die da sind, zu verteidigen und zu nutzen, dabei Risse zu vertiefen und neue Räume zu öffnen.

Das neue Europa wird auch Bündnisse auf Zeit mit denen eingehen, die man für einen Teil der kritikwürdigen herrschenden Zustände verantwortlich machen muss. Auf dem Weg in das neue Europa wird mehr Bereitschaft von Linken für die Politisierung von Widersprüchen nötig sein, mehr dialektische Gelassenheit, wenn es wieder einmal darum geht, den Spalt in der Tür zu einer anderen Zukunft noch etwas weiter aufzubekommen – statt gar nichts zu erreichen außer der selbstzufriedenen Pflege eigener ideologischer Reinheit.

Und wo bleibt hier der Sozialismus?

Das neue Europa wird auch nicht durch einen Bruch mit dem Gegenwärtigen auferstehen, nach dem dann angeblich alles anders, besser wird. Sondern es kann sich nur und muss sich aus den Widersprüchen des Jetzt entwickeln, in dem es diese aufhebt – in genau dem Sinne, in dem Hegel das einmal gemeint hat.

Das neue Europa ist keine neue Idee. Es speist sich auch aus der Summe der Vorstellungen, die Progressive aller Coleur, Linksliberale, demokratische Sozialisten, antistalinistische Kommunisten, Sozialdemokraten und viele andere als Lehre aus der Geschichte schon vor Jahrzehnten gezogen haben. Das neue Europa ist so gesehen auch das Bollwerk gegen den Rückfall in politische Zustände, in denen über linke Alternativen gar nicht mehr öffentlich diskutiert werden kann.

Und wo bleibt hier der Sozialismus? Nun: Das neue Europa ist erst einmal »nur« die Wiederherstellung jener Selbstbehauptung der politischen Form gegenüber der kapitalistischen Realität, die nötig ist, um die Monster zu vertreiben, von denen Gramsci sprach. Was danach noch möglich ist, kann fürs erste offen bleiben.

Gegen Hamlets mangelndes Selbstbewusstsein und für all jene, die die Suppe jetzt auslöffeln müssen, sei abschließend an den Schweizer Kurt Marti erinnert, der im Februar dieses Jahres starb. »Wo kämen wir hin«, heißt es in einem seiner Gedichte, »wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge.«

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