»Macht euren Wahlkampf selber«

Kretschmann lässt seinem Frust über die Grünen im Bund freien Lauf

  • Bettina Grachtrup, Stuttgart
  • Lesedauer: 3 Min.

Eher ruhig, besonnen und weise: Dieses Bild haben viele Bürger von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Kopf. Dass sich der 69-Jährige aber auch heftig in Rage reden kann, wissen seine Mitarbeiter und manche Journalisten aus eigener Erfahrung. Selten wird der Regierungschef dabei gefilmt. Eine Aufzeichnung beim Bundesparteitag der Grünen vor rund einer Woche in Berlin, die im Internet kursiert, dokumentiert einen Wutausbruch bei einem Gespräch mit dem Verkehrsexperten der Grünen-Bundestagsfraktion, Matthias Gastel. Dabei lässt Kretschmann seinem Frust über die Grünen im Bund freien Lauf.

Es geht um das im Grünen-Programm zur Bundestagswahl verankerte Ziel, ab 2030 nur noch abgasfreie Autos in Deutschland neu zuzulassen. Kretschmann ist gegen die Nennung einer konkreten Jahreszahl, weil seiner Ansicht nach viele Voraussetzungen zur Verwirklichung dieses Ziels noch fehlen. Mit öffentlicher Kritik hat er sich beim Parteitag zurückgehalten, um das Bild der grünen Geschlossenheit nicht zu zerschießen. Gegenüber Gastel wettert er: »Das sind doch Schwachsinnstermine.« Er könne, wenn er dazu gefragt werde, nicht ansatzweise erklären, wie das funktionieren solle. »Wie kann man denn so ein Zeug verzapfen?«, erbost er sich.

Im Bundestagswahlkampf soll Kretschmann eigentlich eine prominente Rolle spielen. Im März 2016 hatte er seine Grünen in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl zur stärksten Kraft gemacht. Doch im Video zeigt er wenig Lust auf den Bundestagswahlkampf. »Ihr könnt das machen«, meint er zur strittigen Jahreszahl 2030. »Es ist mir egal. Dann seid aber mit sechs Prozent oder acht einfach zufrieden. Dann jammert nicht rum und lasst mich in Ruhe und macht euren Wahlkampf selbst.« Gastel spricht von unterschiedlichen Rollen, die die Grünen im Bund und der Regierungschef im Südwesten hätten. »Wir als Fraktion im Bundestag bedienen unsere eigene Klientel und versuchen, sie zu vergrößern.«

Die Aufnahme zeigt auch, wie fragil die öffentlich zur Schau gestellte Geschlossenheit bei den Grünen wirklich ist. Wochenlang bemühte sich die Parteiführung, die Unruhestifter des linken Flügels um Jürgen Trittin und des Realo-Flügels um Kretschmann im Zaum zu halten. Alle wichtigen Grünen setzten ihre Unterschrift unter einen Zehn-Punkte-Plan, der Bedingungen für eine grüne Regierungsbeteiligung im Bund formuliert. Das feierten die Grünen als großen Erfolg. Alles umsonst?

Kretschmanns Regierungssprecher Rudi Hoogvliet kritisiert die Aufnahmen als »Lauschangriff«. Es habe sich um ein privates Gespräch zwischen Kretschmann und Gastel gehandelt. »Es wurde weder gefragt, ob aufgezeichnet werden kann, noch war es für die Beteiligten ersichtlich, dass Bild- und Tonaufnahmen gemacht werden.« Dem widerspricht Christian Jung, der im Video als Urheber genannt wird. »Ich stand mit meiner Kamera auf Stativ keine zwei Meter von Herrn Kretschmann und Herrn Gastel entfernt. Die Aufnahmesituation war eindeutig und klar erkennbar«, so Jung. dpa/nd

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