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Armutskonferenz: »Es gibt immer Raum für Verbesserungen vor Ort«
Erika Biehn engagiert sich seit Jahrzehnten gegen Armut. Ein »nd«-Gespräch über den Aktivismus von Menschen mit Armutserfahrung
Sie engagieren sich seit mehr als 40 Jahren gegen Armut. Dabei blieb eine Sache unverändert: Ältere Frauen und Alleinerziehende gehören stets zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen. Woran liegt das?
Das ist leider immer noch so, weil gerade Erziehende oft nur in Teilzeit arbeiten können und damit natürlich ein geringeres Einkommen haben. Schon meine Mutter war alleinerziehend mit mehr als einem Kind und konnte deshalb nur wenig arbeiten. Als ich mich von meinem Mann getrennt habe, hatte ich auch kleine Kinder. Damals gab es 20 Plätze zur Ganztagsbetreuung in einer Stadt mit 40 000 Einwohnern. Diese Plätze habe ich nicht bekommen. Inzwischen sind meine Kinder und Enkel alle erwachsen – aber auch heute ist es noch nicht selbstverständlich, die Betreuung zu erhalten. Dann zahlt man nur geringe Beträge in die Rentenversicherung ein und kann im Alter nicht eigenständig davon leben. Auch in Ehen bleiben weiterhin mehr Frauen als Männer zu Hause. Das Armutsrisiko, insbesondere für Alleinerziehende, ist gerade aus diesem Grund immer noch überdurchschnittlich hoch.
Diese Woche tauschen sich Personen auf dem Treffen der Menschen mit Armutserfahrung zu diesen Themen aus – die Formulierung bedeutet, dass Menschen teilnehmen, die arm waren oder sind?
So ist es. Beteiligen sollten sich Menschen, die tatsächlich immer noch in Armut leben oder aber zumindest in den vergangenen Jahren in Armut gelebt haben. Inzwischen wird jedes Jahr eine Gruppe aus dem Treffen gewählt, die das darauffolgende Jahr vorbereitet. Die Voraussetzung ist, dass man vor nicht mehr als fünf Jahren arm war. Ich zum Beispiel käme nicht mehr infrage, weil ich das Glück habe, jetzt eine Witwenrente zu beziehen, mich aber immer noch unter anderem auch auf europäischer Ebene engagiere.
Erika Biehn, selbst armutserfahren, engagiert sich seit mehr als 40 Jahren mit einem Schwerpunkt auf Frauen und Alleinerziehende gegen Prekarität. Sie ist Mitbegründerin der Nationalen Armutskonferenz, ein Bündnis von Organisationen, Verbänden und Initiativen, die sich für eine aktive Politik der Armutsbekämpfung einsetzen.
Warum sollen sich Betroffene für Armutsbekämpfung einsetzen – ist das nicht der Job von Politiker*innen oder NGOs?
Ohne eigene Erfahrung können viele Menschen nicht nachvollziehen, wie es ist, in Armut zu geraten und herablassend vom Jobcenter oder vom Sozialamt behandelt zu werden. Oder wie es sich anfühlt, seinen Kindern keinen Ausflug bezahlen zu können, weil die Kosten für Wohnung, Ernährung, Strom und Heizung so knapp bemessen sind. Die Mehrheit will von der Gesellschaft anerkannt werden – und das geht in dieser Gesellschaft in erster Linie, wenn man erwerbstätig ist und gut mit dem Einkommen auskommt. Diese Themen können Menschen mit Armutserfahrung deutlicher in die Öffentlichkeit bringen – damit das auch andere Menschen nachvollziehen und verstehen können.
Wie hat sich die Gesellschaft seit der Gründung der Armutskonferenz vor 35 Jahren entwickelt?
Derzeit kann sich die Situation praktisch nur verbessern. Schon in der letzten Koalition hat sich etwas verändert – und zwar nicht zum Positiven. Wenn die Koalition die Grundsicherung so ausbaut, wie sie es derzeit plant, könnte sie grundgesetzwidrig handeln. Das hätte es vor zehn Jahren nicht gegeben. Viele haben derzeit das Gefühl, arme Menschen würden alles vom Staat bekommen. Dabei wissen sie gar nicht, wie viele Wege sie für die Leistungen laufen müssen und wie belastend dieses Leben ist. Diesen Umfang an Armut, den wir derzeit in Deutschland haben, den müsste es nicht geben.
Ergeben sich denn aus den Plänen für die »neue Grundsicherung« der Bundesregierung auch spezifische Probleme für Frauen und Alleinerziehende?
Ja, wenn zum Beispiel Eltern statt bisher erst drei Jahre nach der Geburt eines Kindes nun bereits ein Jahr danach zu arbeitspolitischen Maßnahmen gezwungen werden können. Ich empfehle Frauen immer, sich schon vor dem Ablauf der drei Jahre zu überlegen, was sie nach der Elternzeit tun wollen – Ausbildung, Job, was auch immer. Aber sie sollen selbst die Möglichkeit haben, sich darum zu kümmern. Voraussetzung dafür ist immer ein entsprechender Betreuungsplatz für das Kind. Ich habe als Putzfrau gearbeitet, dafür schäme ich mich nicht, das war ein anstrengender Job. Ich habe auch über 40 Jahre Arbeit im Ehrenamt geleistet, zum Teil 50 Stunden die Woche. Aber das war meine freie Entscheidung. Dazu gezwungen zu werden, für diese oder jene Firma zu arbeiten, ist eine andere Sache. Dass so viele Menschen unter den jetzigen Voraussetzungen eine seelische Erkrankung haben, wundert mich nicht.
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Wie müsste eine armutsfeste Grundsicherung aussehen, die eben das verhindert?
Das Positive am Bürgergeld ist, dass es feste Beträge beinhaltet, die zur Sicherung des Alltags gebraucht werden. Etwa die Kosten der Unterkunft mit Miete und Energiekosten. Dieser Betrag ist aber derzeit zu niedrig, um die Kosten zu decken. Wird er kommendes Jahr erneut nicht angehoben, obwohl die Kosten steigen, kommt das einer Kürzung gleich. Das ist ja im Berufsleben genauso, wenn das Einkommen nicht steigt, die Kosten aber schon. Zugleich geht es bei der Verbesserung der Grundsicherung nicht nur um Geldbeträge, die auf Bundesebene entschieden werden. Wenn man für alles Mögliche zum Jobcenter muss, Einzelanträge ausfüllen muss und damit praktisch um Leistungen zu betteln hat – das ist, was anstrengend ist und die Menschen kaputt macht. Ich habe miterlebt, dass Menschen zehnmal ihre Papiere für eine Leistung einreichen mussten. Das ist etwas, was Kommunen und Verwaltung ändern können.
Was bedeutet das konkret?
Behörden, die fairer mit Menschen umgehen, wären ein wichtiger Punkt. Sich darum zu kümmern, dass beispielsweise Alleinerziehende nicht ans andere Ende der Stadt für einen Betreuungsplatz fahren müssen. Leerstehende Räume für alle zu öffnen wäre eine Möglichkeit, die ebenfalls nicht viel Geld kosten würde. All diese Dinge würden das Leben vieler Menschen erleichtern. Die Situation ist momentan keine gute. Aber es gibt immer Raum für Verbesserungen vor Ort.
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