Ikarus über den sanften Hügeln des Vogtlands

Zum 90. Geburtstag von Wolfgang Mattheuer präsentiert die Jenaer Kunstsammlung sein zeichnerisches Werk

  • Doris Weilandt
  • Lesedauer: 4 Min.

Aus einer Kleingartenanlage erhebt sich ein fliegender Mensch, leicht und ohne Mühe. Die von Zäunen verstellte Kolonie ist kein Hindernis, sich schwebend darüber hinweg zu setzen. Immer wieder hat sich Wolfgang Mattheuer mit der Thematik des Ikarus beschäftigt, mit der mythologischen Figur, die aus dem Labyrinth des Minotaurus fliehen kann. Die erste Zeichnung dazu entstand, als Ulrike Meinhof 1976 starb. »Trauer« heißt das Blatt, auf dem ein von einer schwarzen Gestalt bedrängter Plastikvogel zu sehen ist. »Aus dieser Betroffenheit hat er den gesamten Ikaruszyklus entwickelt«, erzählt Sammler Peter Mathar. Von ihm stammt die gesamte Kollektion, die derzeit in der im thüringischen Jena zu sehen ist - die »größte linksrheinische Sammlung von Zeichnungen«, wie er schmunzelnd bemerkt.

Mattheuer - Mathar: Die Alliteration gab seinerzeit sicher nicht den Ausschlag für die intensive Beziehung, die die beiden verband. Der Künstler, der sich selten von Zeichnungen trennte, fasste vielmehr Vertrauen in Mathar und gewährte ihm einen tiefen Einblick in sein Werk.

1927 wurde Mattheuer im vogtländischen Reichenbach geboren. Zeitlebens blieb er mit dieser Landschaft verbunden. »Ohne meine tiefe Verwurzelung in diesem schönen, bescheidenen und geschundenen Stückchen Welt hätte ich meine Bilder nicht so gemacht«, bekannte der Künstler.

Heimat gab ihm die Freiheit und Ruhe, die er für seine Arbeit brauchte. Auf Zeichnungen bewahrte er alles, was ihn umgab: seinen Arbeitstisch mit zahlreichen Utensilien, den Garten, in dem zahlreiche Plastiken entstanden, Stimmungen am Abend und nach einem Gewitter, die Jahreszeiten. Um die kleinen Dörfer, die sich zwischen die Hügel ducken, zeigt sich die Natur ganz unmittelbar. Der Horizont liegt tief im Bildraum. Die auf- oder untergehende Sonne taucht die Landschaft in ein besonderes Licht, das ihre Form plastisch sichtbar werden lässt. Oft nimmt der Künstler einen erhöhten Standpunkt ein, um weit in die Ferne zu schauen. Auch Straßen spielen immer wieder eine große Rolle. Letztlich zeigt auch das berühmte Ölgemälde »Hinter den sieben Bergen« (1973) eine vogtländische Landschaft, die von einer endlosen Straße dominiert wird. Dahinter erscheint mit der Marianne das Symbol der Französischen Revolution als Fata Morgana.

Für Mattheuer wurde Leipzig zum Lebensmittelpunkt. Dort studierte er an der Kunstgewerbeschule und später an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, die ihn 1965 zum Professor berief. Er fand zeitig seinen unverwechselbaren Stil und gehört damit zu den Hauptvertretern der Leipziger Schule. In der aktuellen Ausstellung in der Jenaer Kunstsammlung werden Zeichnungen aus allen Werkphasen vorgestellt. »Titel sind für Mattheuer wichtig. Aber sie schließen selten den Bildgedanken auf«, erklärt Peter Mathar beim Rundgang. Auf dem farbigen Blatt »Abschied« ist im Vordergrund eine Hand zu sehen, die mit einem weißen Tuch winkt. Als Bild im Bild erscheint darin ein Mann mit einem Kind, die ebenfalls winkend aus einem Wald treten. Dazwischen liegen mehrere Schienenstränge. Das Motiv fand er auf einer mehrwöchigen Reise durch die UdSSR 1966. Die ungewöhnliche Perspektive verleiht der weiblichen Figur, die modifiziert in »Wolgafahrt« wieder erscheint, Symbolcharakter.

Mit einem kritischen Blick auf die eigene Realität, auf einen Sozialismus, der sich selbst genug war, mischte sich der Künstler als Unruhestifter ein. Biederkeit konterkariert er mit Blättern wie »Horizont«, »Jahrhundertschritt« oder »Kain und Abel«. Er möchte Menschen bewegen, genau hinzusehen und sich einzubringen. »Den Nerv einer Zeit zu treffen und zu fixieren, jenen neuralgischen Punkt, der Lust und Schmerz auslöst, wenn mir das gelungen sein sollte, so ist das ein Resultat meiner lebenslangen intensiven Auseinandersetzung mit der Welt«, schrieb Mattheuer in seinem Tagebuch.

Die Ausstellung »Wolfgang Mattheuer zum 90. Geburtstag« aus der Sammlung Peter Mathar ist bis 13. August in der Kunstsammlung Jena zu sehen, 07743 Jena, Markt 7, Tel: 03641-498261; Di, Mi, Fr 10 bis 17 Uhr, Do 15 bis 22 Uhr, Sa, So 11 - 18 Uhr; www.kunstsammlung.jena.de.

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