Zauberwort Reformulierung

Der 1. Zuckerreduktionsgipfel setzt auf gesetzliche Vorgaben statt Freiwilligkeit

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Deutschen essen zu viel Zucker, ganze 32 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt bei nicht mehr als 18 Kilogramm. Die süßen und häufig übersüßten Mahlzeiten haben es in sich, mit schädlichen Folgen von Übergewicht bis zu Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten. Zehn Millionen Diabetiker gibt es hierzulande aktuell. Wenn sich am Ess- und weiteren Gesundheitsverhalten nichts ändert, wird 2030 ein Viertel der Bevölkerung betroffen sein. Für die Krankheitskosten werden alle Versicherten aufkommen müssen. Diese Aussicht nahm die Krankenkasse AOK zum Anlass, Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zum 1. Deutschen Zuckerreduktionsgipfel unter dem Motto »Süß war gestern« einzuladen.

Dringend nötig war diese Veranstaltung auch deshalb, weil Deutschland wieder einmal hinterherhinkt. Neben der Bundesrepublik hat in der EU nur Zypern bisher gesetzgeberisch noch nichts in dieser Frage unternommen. Andere Staaten sind deutlich weiter.

Gerade Großbritannien kann auf erste Erfolge verweisen: Begonnen wurde hier 2003 mit der Salzreduzierung - Salz ist ebenso in Nahrungsmitteln versteckt wie Zucker. Der Industrie wurden in den Jahren 2005, 2008 und 2013 für über 80 Lebensmittelgruppen Reduktionsziele vorgegeben, graduell waren es 10 bis 20 Prozent Salz weniger pro Jahr. Die Öffentlichkeit nahm die veränderten Produkte gut an. Die in relativ geringem Maße reduzierte Salzaufnahme pro Person und Tag führte bereits dazu, dass etwa 9000 Todesfälle durch Herzinfarkt und Schlaganfall verhindert wurden. Premierministerin Theresa May setzt diese Politik jetzt mit einem Plan gegen Übergewicht fort, nach dem unter anderem Steuern auf gesüßte Getränke erhoben werden sollen. Auch eine freiwillige Reformulierung von Produkten ist im Gespräch, wobei durch Veränderungen der Rezeptur 20 Prozent Zucker eingespart werden sollen.

Reformulierung, also die Änderung der Rezeptur oder Zubereitungstechnik verarbeiteter Lebensmittel, ist auch hierzulande das Zauberwort: Lidl tut es, der Ketchuphersteller Kraft Heinz ebenso, Rewe will es zumindest versuchen. Gerade international aktive Unternehmen haben verstanden, dass sie daran nicht vorbeikommen. Die Reduktionsziele mögen auf den ersten Blick gering erscheinen, die Erfolge sprechen für sich. Der Aufwand für die Hersteller ist unterschiedlich hoch. Nach Aussagen des Kraft-Heinz-Marketingdirektors für Europa, Michael Lessmann, war es zwar einfach, den Zucker teilweise aus dem Ketchup herauszunehmen, aber deutlich schwieriger, ohne Ersatzsüßung den gleichen Geschmack zu erreichen. Kraft Heinz brauchte dafür letztlich zehn Jahre.

Die beim Zuckergipfel anwesenden Politiker von SPD, Union und den Grünen waren sich einig, dass dennoch Gesetze kommen müssen. Dietrich Monstadt, CDU-Parlamentarier mit Diabetes, sieht seine Minderheitenposition in der Union und bedauert, dass der Landwirtschaftsminister in dieser Frage »zum Jagen getragen werden muss«. Freiwillig war genauso gestern wie süß, so die fast einhellige Ansicht der Konferenzteilnehmer. Zwar gebe es ein Eckpunktepapier aus dem Agrarministerium, aber außer Ankündigungen sei wenig passiert, kritisiert die Grüne Kordula Schulz- Asche. Auch aus der Industrie gebe es Stimmen, dass nur das getan werde, was gesetzlich vorgegeben sei.

Während Günter Tissen, Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker, immerhin für die ansonsten abwesenden Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik in die Bresche sprang, fielen seine Argumente pro Zucker schwach aus. Er machte die Gesamtkalorien in Lebensmitteln als Hauptschuldige aus. Zucker ist aber nicht nur der einzige Grund für Karies und Hauptquelle für versteckte Kalorien, sondern hat darüber hinaus auch einen eindeutigen Einfluss auf die Gesundheit.

Auf dessen Stoffwechselwirkung verwies der Kinderarzt Berthold Koletzko von der Universität München. Zucker werde in Bauchfett umgewandelt und das mache krank. In einer Studie sei für 41 Kinder mit hohem Zuckerkonsum dieser nur wenig verringert worden. Doch schon nach neun Tagen habe sich deren Leberfett auf unter die Hälfte reduziert, auch das Bauchfett sei zurückgegangen.

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