Massenhafter Protest für Gerechtigkeit

Der Marsch des CHP-Vorsitzenden von Ankara nach Istanbul endet mit einer Großkundgebung

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Bei der Pressekonferenz am Rande des G20-Gipfels in Hamburg ließ Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan einmal mehr alle Fragen nach der Menschenrechtslage in seinem Land abprallen. Der gewählte Abgeordnete und Ko-Vorsitzende der linken, prokurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, ist angeklagt in 127 politischen Verfahren. Der sei ein Terrorist, so Erdoğan. Die Vorsitzende der türkischen Sektion von Amnesty International, Idil Eser, wurde zusammen mit anderen Menschenrechtsaktivisten vor wenigen Tagen festgenommen. Die wollten eine Fortsetzung des Putsches vom 15. Juli 2016 vorbereiten, so Erdoğan.

Dass nicht alle in der Türkei glauben, was der Präsident sagt, hat der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu - Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP) - nun in beeindruckender Weise deutlich gemacht. Nachdem sein Stellvertreter Enis Berberoğlu zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, weil er vor zwei Jahren Bilder von einem türkischen Waffentransport nach Syrien an die Zeitung »Cumhuriyet« weitergegeben haben soll, war der ewige Zögerer Kılıçdaroğlu zu einem Protestmarsch aufgebrochen. Mit nur einem Schild bewaffnet, auf dem »adalet« (Gerechtigkeit) stand, lief der 68-Jährige mehr als 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul. Zuerst folgten ihm lediglich ein paar hundert Getreue. Doch mit der Zeit wurden es immer mehr, auf der vorletzten Etappe zählte die Polizei 230 000 Menschen. Mit einer riesigen Kundgebung in der Nähe eines Gefängnisses in Istanbul, die zu Redaktionsschluss noch andauerte, endete der Marsch am Sonntag. Auch die linke, prokurdische HDP - nach der CHP zweistärkste Oppositionskraft im Land - schloss sich dem Protest an. Doch das Misstrauen zwischen HDP und CHP sitzt auf beiden Seiten tief. Dass sich die HDP nun einfach einer von der CHP dominierten Oppositionsbewegung anschließt, ist kaum zu erwarten. In der linken Zeitung »Bir Gün« kritisierte der Soziologe Enver Aysever das Motto des Marsches. Der Begriff »Gerechtigkeit« könne ganz verschieden interpretiert werden, so Aysever. Trotzdem lief auch er ein Stück beim Gerechtigkeitsmarsch mit. Andere sehen in der Unbestimmtheit des Begriffes »Gerechtigkeit« gerade eine Chance für eine breite Bewegung gegen die AKP-Herrschaft. So zum Beispiel der Politikwissenschaftler Edgar Şar, der zu den vielen türkischen Akademikern gehört, die in den letzten Monaten entlassen wurden.

»Gerechtigkeit« war einst auch der Slogan, mit dem Erdoğan antrat, die Massen zu gewinnen. Auf der Pressekonferenz in Hamburg versuchte er es damit noch einmal, schließlich sei er selbst politisch verfolgt worden und habe vier Monate im Gefängnis gesessen. Das stimmt, doch verglichen mit der heutigen Praxis war der Umgang der türkischen Justiz mit Erdoğan milde. Er ist es nicht: Im Zusammenhang mit dem Marsch der Opposition kündigte Erdoğan neue Verhaftungen an.

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