Pures Moos

Geburtsdatum einer Genialität: Vor 55 Jahren gaben die Rolling Stones ihr erstes Konzert

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

So wird es - per Lokalzeitung - am 11. Juli 1962 in London vermeldet: »Mick Jagger, ein Rhythm-and-Blues-Sänger, kommt morgen Abend (Donnerstag) mit einer neuen Gruppe in den Marquee Club. Die Gruppe heißt Rolling Stones.« Dieser Donnerstag vor 55 Jahren, der 12. Juli, war das Geburtsdatum einer Genialität. »Wer weiß«, so Mick Jagger kürzlich in der BBC, »ob die Band überhaupt noch 60 oder 65 wird, insofern ist das jetzige Jubiläum wie eine Grenzlinie zwischen Kontur und Nebelzone, vielleicht sogar zwischen Leben und Tod«.

Fünfundfünfzig Jahre Stones! Keiner von dieser Viererbande, die im September auf Europatournee geht, ist nunmehr unter siebzig. Eine Zeit lang schien es schon, als niste sich das Sterben unweigerlich in der Band ein. Und ausgerechnet Keith Richards, das Gitarristenkrokodil, das Lebenswundmal, der Verausgabungsriese, ausgerechnet dieser Asozial-Herkules und Raubbaumeister beeilte sich mit der rauschgesteuerten Versicherung, einzig er werde, als Musikergenie, die Truppe überleben. Dieser verknorpelte Richards, der so oft auf den Grenzen zwischen Sein und Nichtsein balancierte, und der vor Jahren besonders traurig blickte, als ihm das Leben die schönste Pointe versaute, nämlich: von jener Kokosnuss, die ihm auf den Kopf gefallen war, erlöst zu werden. Der Mann, dessen Aussehen an jene Seelenhöllen erinnert, denen schon ein Dante seine Qualgesichter abschaute. Seit Jahrzehnten trägt er um den Hals einen Totenkopf-Ring, den ihm eine Freundin schenkte, weil sie in den Zügen dieses Kerls früh »das Grinsen des Todes sah«. Drei Hunde hatte dieser räudige Typ in seinem Leben, sie hießen Rasputin, Ratbag und Syphilis. Sein Stirnband erinnert an einen Sioux, der sich auf den Eintritt in die ewigen Jagdgründe vorbereitet. Ein Millionengeschäft, diese ewigen Jagdgründe, wer tritt da freiwillig ab.

Wirklich, sie sind alt. Knittrig, fossil, natürlich auch lächerlich in der Sturheit ihrer Präsenz. Jagger mit dem Markenzeichen des durchgedrückten Kreuzes, ein Ausdruckswille zwischen Oscar Wilde im Körper und Arthur Rimbaud im Gemüt. Glimmer-Twins, so bezeichnet sich das Songwriter-Produzenten-Duo Jagger und Richards noch heute, man kennt sich aus Kindergartentagen. Glimmer-Zwillinge. Sagen wir’s so: Manche Menschen sterben spuckend, diese Steine sterben spielend. Mit Untermalungen durch schneidende, ungeschliffene Gitarrenriffs. Und dumpf pulsierende Rhythmen. Charlie Watts bildet diese Rhythmus-Abteilung, Ron Wood ist der grinsende Schrat.

»Rolling Stones« hieß ein früher Song von Muddy Waters. Rollende Steine sind nach einem englischen Sprichwort Steine, die kein Moos ansetzen. Die Stones sind pures Moos, obwohl das Geschäft rollt und rollt. Jagger, halbherziger Londoner Ökonomiestudent, übernahm diesen Liedtitel für jene Rhythm & Blues-Band, die er gründete, und die vor allem eines zu sein hatte: wild, nah am Gesetzesbruch, krass abseitig. Jagger wurde der Gossen-Gott, der wie Cipolla in Thomas Manns »Mario und der Zauberer« die Zuschauer in seine Strippen wickelt, noch immer. Androgyn, exzessiv, narzisstisch. Und mit perfekten Würfen. Genannt sei nur die durchschlagende Internationale für die Alltagsgefesselten dieser Erde. Für jene vielen Träumer, die doch niemals eine Tür zum Meer finden: »I Can’t Get No Satisfaction«.

Den Musikern ging es vom ersten Album 1964 an ums Reelle, um den Körper zum Beispiel, den gejagten, gestressten, gepeitschten, überforderten, zitternden, strotzenden, trotzenden, den triumphal am Erfolgssog leidenden Körper. Ohne jeden übertriebenen transformativen Drang. »Ich bin der Sänger«, hat Jagger mal gesagt, »nicht der Song.« Ein Springteufel der Bühnenböden - kein Poet des Überbaus wie John Lennon. Die Affäre der Seele mit dem Unmöglichen braucht andere Attraktionen als eine Botschaft.

Im »Zauberberg« schreibt Thomas Mann: »Die Musik ist dämonisches Gebiet.« Die Stones genossen den Anwurf des Hässlichen, des Kulturlosen, sie sind diesem Stil des Ruppigen, des stampfigen Auftretens bis ins provokativ Alberne treu geblieben. So stehen diese Lederhäute unverändert für eine alte Wahrheit: Wer eine Welt entdecken, weite Horizonte haben will, der muss auch die Krümmung dieser Welt erfahren wollen. Musik als Droge gegen die Häuslichkeit.

»Angie«: Wie da eine zehrend melancholische, aber aufgekratzt bleibende Stimme eine Schönheit anbetet und das Schöne schier zerkaut! Stets haben die Stones in ihrem Werk daran erinnert, dass es zwischen den Geschlechtern etwas unwiderlegbar Dschungelhaftes und Kriegerisches gibt. Jagger, dieser Mundvierkant - er machte plausibel, was das heißt: »Sympathy for the Devil«. Einen seiner schönsten Momente hatte er, als er 1976 »Hey, Negrita« sang: weiblich, männlich, in aufreizender Pose, ein drittes Geschlecht, schönheitsbesessen, als wolle er Nabokov zum Weiterschreiben der »Lolita« animieren. Nie wären die Stones auf die Idee gekommen, sich etwa am geliebten Blues weltbesinnend aufzurichten (es gab nichts Messianisches an ihnen, außer ihrer Liebe zu John Lee Hooker). Sie schossen einfach nur giergeile Viren des Unverblümten, Schmutzigen, Überdosierten in die Leiber ihres Publikums. Punkt! Und ihre Jahrhundertgröße besteht in der Kraft, mit der sie das Echo aushielten - und weiterschossen.

Im Dezember 1969 geschah der Mord an Meredith Hunter, im nordkalifornischen Altamont, auf dem Gelände der stillgelegten Autorennbahn, bei einem Gratiskonzert vor 300 000, und die berüchtigten »Hells Angels« durften als Ordner agieren. Der Mord geschieht, Jagger begreift die Situation (ein Film hat es dokumentiert) - die Stones singen und spielen weiter. Ein abstoßend cooles Meisterstück aus Frost und Herzschnauzigkeit. Oder aber ein verblüffend menschliches Meisterstück der Beruhigung und Vulkandämpfung. Jagger als ein großer Abenteurer der Nerven.

»Beggars Banquet«, »Sticky Fingers«, »Exile on Main Street«, »Bridges to Babylon« - die Stones nahmen gigantische Alben auf; sie sangen so, wie andere zuschlagen; aber sie waren auch, Mitte der Siebziger, ins Trudeln gekommen. Gitarrist Brian Jones war schon tot, aber Bill Wyman noch eine lange Weile dabei. Ach, ja, Brian Jones! Die Harmonika-Parts in »Lady Jane« und »Little Red Rooster« sind, wie sein Slide-Gitarrenspiel, bleibende Klassik. Die sich mit dem Kommerz bestens verstand. Die Stones verdurchschnittlichten, aber sie taten es selbstbewusst, auch in der obligaten Diskophase. Sie blieben stehen - um sich dann in einen gigantischen Rausch der Welttourneen hineinzusteigern. Erregend eigenartig, schweißtreibend olympisch. Millionäre als Schwerarbeiter. Das rührt. Es ist nicht selbstverständlich, dass alte Männer ein Hurenlied wie »Honky Tonk Woman« oder »Street Fighting Man« singen, und man glaubt ihnen noch immer das Ruchlose, so, als meinten sie es wirklich ernst. Niemand meint nichts ernst. Das aber voller Besessenheit!

Mag die Revolution ihre Kinder fressen, die Bürgergesellschaft ist nicht weniger grausam: Sie lässt ihre Kinder erwachsen werden. Und sie hält den Beat der Stones am Leben, indem sie ihn mit Betablockern versorgt. Na und?! Wenn ich an diese Band denke, denke ich an Reinhold Messner, an Werner Herzog, an Einar Schleef, an Jim Morrison, an Thomas Brasch, an so viele (und doch so wenige), die mit extremer Entschiedenheit, mit Schweiß und Schindluder, mit Brachiallust und Besessenheit jedes Gnadenangebot zur Mäßigung ablehn(t)en. Die Stones, das ist die Grazie des Unsauberen. Ist Gediegenheitsverachtung. Straßenköter in goldenen Käfigen. Das instinktive Bedürfnis nach Unehre. Die herausgestreckte Zunge als Band-Ausweis. Leck mich!

Kunst, die den Stones ähnlich war, hieß in der DDR Renft oder Castorf und hatte viel mit dem zu tun, was diese Truppe präsentiert. Verneinungsmagie: »Exile On Main Street«. Im Film »Sonnenallee« von Leander Haußmann ist es eine Stones-Platte, die bei einem Jungen, als DDR-Grenzer an der Mauer auf ihn schießen, wie eine kugelsichere Weste wirkt. Leben wird gerettet, aber die Platte geht kaputt. Tränen. Schutzengel verlangen mitunter böse Opfer. Das war wie im Witz vom Schotten, der, die Whiskyflasche in der Hosentasche, aufs Glatteis stürzt, das Nass an den Hosenbeinen herablaufen fühlt und fleht: Hoffentlich ist es Blut!

»Let It Bleed«. So sangen es, vor knapp fünfzig kurzen Jahren, die Stones.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal