Soziale Mischung in Gefahr

Rasanter Strukturwandel in Russlands Hauptstadt

  • Ulrich Heyden
  • Lesedauer: 2 Min.

Am 3. Juli dieses Jahres reichte die Moskauerin Oksana Junanowa eine Klage beim russischen Verfassungsgericht ein. Ihr Haus steht auf der Liste des großen Moskauer Abrissprogramms. Die Argumentation der Klägerin: Wohnungseigentum könne nur auf Gerichtsbeschluss beschlagnahmt werden, wenn der Staat dieses beanspruche und gegen vollständige Entschädigung. Wie ihr Verteidiger Daniil Lipin gegenüber dem Wirtschaftsportal »RBK.RU« erklärte, hat die Stadt beim Umsiedlungsprogramm nicht berücksichtigt, dass der Boden unter den Häusern den Eigentümern der Wohnungen gehört. Das Interesse der Stadt richte sich offenbar vor allem auf den Boden.

Kritiker des Programms meinen, dass die Stadtverwaltung mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen will. Die Wohnungswirtschaft, die sich in einer Krise befindet, soll unterstützt werden. Am Stadtrand seien viele Wohnungen in neugebauten Mehrfamilienhäusern bisher nicht verkauft worden, weil sie schlechter Qualität sind. Offenbar wolle die Stadt diese Wohnungen zugunsten der Umsiedler aus den Chruschtschowka-Häusern aufkaufen.

Aktivisten in Anwohnergruppen meinen, die Stadt wolle vor allem Boden in guten Lagen - in der Innenstadt, in der Nähe von Parks und U-Bahn-Stationen - für hochpreisige Neubauten freimachen. Um Investoren anzulocken, habe die Stadt die noch aus der Sowjetzeit stammenden Normen für Bebauungsdichte, Lichteinfall, Bepflanzung und Anzahl der sozialen Objekte wie Kindergärten aufgeweicht. Sie könnten an die Interessen der Investoren angepasst werden. In dem Gesetz zu Abriss und Umsiedlung fehle ein klares Bekenntnis zur Einhaltung dieser Normen.

Moskau hat in den vergangenen sieben Jahren einen rasanten Strukturwandel erlebt. Alte Fabriken in der Stadt wurde fast alle geschlossen. Auf den noch freien Flächen - wie dem Gelände des ehemaligen Lkw-Produzenten SIL - entstehen Wohnhäuser. Noch ist die Elf-Millionen-Einwohner-Metropole auch im Innenstadtbereich sozial gemischt. Doch hier findet man zunehmend Angebote für Besserverdienende. Wer am Weißrussischen Bahnhof spazieren geht, trifft mitten in Chruschtschowka-Vierteln auf teure Privatkliniken.

Die Stadtverwaltung will Moskau zur »Global City« machen, die im weltweiten Wettkampf um Investitionen mithalten kann und attraktiv ist vor allem für die Beschäftigten des Finanzgewerbes, der IT-Unternehmen und der »kreativen Klasse«. Wie in allen Metropolen besteht die Gefahr, dass Geringverdiener in Außenbezirke verdrängt werden. Ulrich Heyden

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